Seeanemone

Für das neue Jahr habe ich mir vorgenommen, nicht mehr zu erschrecken, wenn ich Geister und Gestalten aus dem Augenwinkel in meiner Wohnung entdecke. Kein Zusammenzucken mehr, meinem Mund wird kein weibisches Huch! mehr entfahren, wenn ich mal wieder heimgesucht werde. Coolness und Contenance sollen meine neuen Säulenheiligen sein.
Gerade gestern, ich führte ein Selbstgespräch, was ich manchmal tue, um bei einer möglichen, mir begegnenden zukünftigen Konversation nicht um Worte verlegen zu sein, überzeugte ich mich, von nun an Gelassenheit und nicht mehr Sorge, mein Leben bestimmen zu lassen. Da bemerkte ich, dass mir die ganze Zeit ein Gespenst auf dem Sofa seine Aufmerksamkeit geschenkt und meine Ausführungen mit anhaltendem Kopfnicken quittiert hatte.
„Huch!“, sagte ich. „Ich habe dich im ersten Moment für einen Stapel Schmutzwäsche gehalten.“
Wenig überrascht antwortete das Gespenst mit matter Stimme: „Hast du einen Gedanken schon mal so oft gedacht, dass du glaubtest, ihn nicht mehr denken zu können?“
Und ob. Ich wollte davon erzählen, dass mir immer, wenn ich die Kühlschranktür öffne, das Wort Seeanemone durch den Kopf schießt und ich zumindest Willens bin, es laut auszusprechen, doch ich entschied mich dagegen, da diese, meine Schrulle keinerlei Mehrwert für unser Gespräch hatte.
Das Gespenst fuhr fort: „Darf sich Mensch nennen, wer noch nie das Bedürfnis verspürt hat, einem x-beliebigen Passanten wegen seiner hässlichen Schuhe nach dem Leben zu trachten? Ich denke nicht. Ich hingegen kenne dieses Bedürfnis gut. Sogar sehr gut, denn ich war Mensch.“
Aber das wage ich zu bezweifeln, denn beim erneuten Hinsehen stellte ich fest, dass dieses Gespenst doch nur aus einer Winterjacke, einer Hose, zwei Kapuzenpullis und einer unbestimmten Anzahl einmal getragener Oberhemden bestand. Und auf einmal fiel mir auch wieder ein, dass ich diese Episode genau so bereits ein Dutzend Mal erlebt habe. Durstig ging ich in die Küche, öffnete den Kühlschrank und dachte laut „Seeanemone“.