Fehleinschätzung

Ich nenne zahlreiche Talente mein Eigen, doch Menschenkenntnis gehört nicht dazu. Auch mit Pflanzen kenne ich mich nicht aus, aber mein Alltag ist so eingerichtet, dass ich es selbst kaum bemerke. Gänseblümchen, Löwenzahn, Birke, Eiche, Weihnachtsbaum, mehr benötige ich in der Regel nicht. Meine Mitmenschen richtig einschätzen und beurteilen zu können, das wäre ein Sache, in der ich gerne Meisterschaft oder wenigstens vage Ahnung erlangen würde. Selbst von Letzterem bin ich himmelweit entfernt. Wo andere im menschlichen Miteinander über Vorhersehbarkeit und ewiggleichen Trott klagen, ist meine Überraschung kolossal. Nicht einmal den Zorn meines Vaters konnte ich vorhersehen, als ich ihm meine Verlobung mit dem Schutzpolizisten Fritjof mitteilte – im Nachhinein betrachtet eine unerquickliche Liaison und keinesfalls den bis zu seinem Tode währenden Zwist mit meinem Vater wert, geschweige denn bettelarm und von der Familie verstoßen mein Dasein zu fristen. Was sehen Sie mich denn so an? Ah, ich weiß! Sie können sich nicht vorstellen, wie man sich mit derart geringen Kenntnissen der Botanik im Leben zurechtfindet.