Als mir vergangene Woche, nach einigen Jahren flüchtiger Geburts- und Feiertagsgrußaustausche, der Ich-Erzähler begegnete, war ich verblüfft und auch ein klein wenig neidisch, wie gesund und fit er aussah. An mir sind die Jahrzehnte leider nicht so spurlos vorbeigegangen
„Erinnerst du dich an das Nachbarpärchen, über das du mal eine Geschichte geschrieben hast?“
Bei der Fülle an verfassten Texten erinnerte ich mich nicht, ich vermied jedoch, es vor dem Ich-Erzähler zuzugeben, da ich von seiner überaus launischen Natur mehr als ein Liedchen singen konnte.
„Ganz ruhige Leute. Nebenfiguren eigentlich. Damals in deiner Prosaminiatur ging es darum, dass du immer laut brüllend durch deine Wohnung ranntest, und die beiden, eng umschlungen auf ihrer Couch saßen und sich leise Trostworte zuflüsterten, bis du dich beruhigt, bzw. wie sie sagten, dich wieder eingekriegt hattest.“
Dunkel, ganz dunkel. Wie gesagt, ich habe so viele semi-autobiografische Geschichten geschrieben, dass ich allmählich den Überblick verlor.
Hubert und Mitzi. Stimmt, ich erinnere mich. Aber was ist mit denen?
„Familiendrama. Er wollte sich trennen, sie sagte ’nur über deine Leiche‘, Androzid, dann Selbstmord.“
Ich war ein bisschen betroffen. Und das Kind? Ein zehnjähriger Junge, der nie grüßte, wenn man ihn im Hof traf.
„Den hast du doch damals in der vorletzten Fassung herausgestrichen“, sagte der Ich-Erzähler. „Und das sowohl stilistisch als auch inhaltlich völlig zurecht.“
Mannmannmann, da kann man mal wieder sehen, die Stillen sind oft die Schlimmsten. Der Ich-Erzähler nickte.
„Ich soll dir übrigens von unserem gemeinsamen Freund etwas ausrichten.“
Der Ich-Erzähler kam mir unangenehm nah; mit Missvergnügen stellte ich fest, dass ihm, im Gegensatz zu mir, kein einziges Haar aus der Nase ragte und sein Atem frisch wie der Herbstwind war.
„Er sagt, du sollst niemals vergessen, dass alle Menschen sterblich sind.“
Der Ich-Erzähler lächelte breit. „Ich natürlich nicht.“
Natürlich nicht.