Das Nähkästchen der schweigenden Oma

Das Nähkästchen meiner Oma ist bis zum Rand gefüllt mit Schweigen. Und nicht nur das Nähkästchen. Aus Schränken und Schubladen quillt Unausgesprochenes und Regalbretter biegen sich unter der Last unerzählter Geschichten.

Und nicht nur meine Oma hortet Worte. Alle Frauen meiner Familie haben stets jeden verfügbaren Raum mit ihrem Schweigen gefüllt. Wenn Schweigen Gold wäre, wir wären unbeliebter gewesen als eine jüdische Bankiersfamilie. Nur aus ihren Augen sprach leise ein unstillbarer Hunger und ein unheilbarer Schmerz. Die Männer waren verrückt nach ihnen, aber sie waren nur verrückt nach sich selbst.

Dieses Erbe trage ich, auch wenn es mir nicht behagt. Noch weniger behagt es mir, mein Dasein gebeugt unter dem Joch der Epigenetik zu fristen. Also spucke ich hin und wieder in hohem Bogen einen Zellkern aus und jage ihn unter beschwichtigendem Geplapper davon. Einmal die Woche kehre ich Verschwiegenes aus den Winkeln meiner Wohnung zusammen, blase die Backen auf und puste das Ganze zum Fenster hinaus.

Meine Oma ist längst gestorben und die Augen der Mutter sind trübe geworden, so dass Schmerz und Hunger nicht mehr hinausfinden können. Stattdessen toben sie in ihrem Kopf herum und klopfen ihr das Gehirn zu Brei.

„So möchte ich nicht enden“, sage ich drei mal am Tag laut. Wie einen Zauberspruch und mache dazu mit der linken Hand magische Zeichen in die Luft. Aber wer will schon enden?