Literarisches

Das ‚alte Normal‘

By

Erzählt mir nichts vom ‚alten Normal‘. Ich will nichts hören über das ‚alte Normal‘. Stattdessen will ich von mir erzählen, denn ich warte schon so lange, warte, dass es endlich losgeht. „Du hast wohl den Schuss nicht gehört“, sagt man mir, doch das stimmt bekanntlich nicht, habe ich doch bereits sehr früh im Leben den Schuss gehört, ja, hören müssen, der auf mich abgefeuert worden war. Zuvor waren mir rechts drei Kinderrippen gebrochen worden – niemand weiß mehr, wie – oder ich lag mit mir selbst zugefügten Vergiftungen im Krankenhaus; meine schweren Verbrennungen – ein Unglück, wird sich bis heute…

Read More

Fragen Sie mich bloß nichts!

By

Als moderner Mensch muss man immer und jederzeit über alles Bescheid wissen. Mir lag das Modernsein schon in der Wiege. Bereits mit wenigen Monaten vermochte ich in ganzen Sätzen zu sprechen und fragte meinen Eltern Löcher in den Bauch, aus denen lebenswichtige Organe austraten. Das brachte ihnen einen frühen Tod und ich wuchs fortan im Nasewaisenhaus auf, wo ich aus Sicherheitsgründen nur sprechen durfte, wenn mich jemand etwas fragte. Da ich selbst entsetzt über die Angelegenheit war, kam mir das Schweigen entgegen, wollte ich doch keine weiteren Todesfälle herbeiführen. Traurig war ich dennoch, denn mein Berufswunsch war Quizmistress gewesen. Das…

Read More

Die Feder ist mein Gewehr

By

Im Voraus sollte beachtet werden, dass an den Tagen, die dem dichterischen Lebenswerk gewidmet sind, also an allen Werktagen, die Farbe Rot für Kleidung absolut tabu ist. Ferner sollten Räume gemieden werden, in denen Vögel gezüchtet werden bzw. wurden. Vögel, und das wird jeder Ornithologe bestätigen, sind oft Boten für Dämonen und böse Geister. Ich finde es in diesem Zusammenhang durchaus erwähnenswert, welches Amüsement mich überkommt, wenn ich an die zahllosen Passanten denken muss, die an harmlos anmutenden Vogelgruppierungen vorbei schlendern, womöglich einen Moment innehalten und sich am Anblick erfreuen, womöglich die pickenden Gesellen zum Anlass nehmen, um über die…

Read More

Veränderungen

By

Als Kind plagten mich andere Sorgen und Nöte als heute. Niemals sprach ich diese Sätze über Fischers Fritz oder die langsame Kellnerin nach, aus Angst vor einer gebrochenen Zunge und die Furcht vor der Pest raubte mir den Schlaf. Orangenhaut fand ich hingegen begehrenswert, denn ich mochte es wohlriechend und farbenfroh. Nun warte ich gespannt auf das Alter, das gewiss neue Ängste für mich bereithält und mich über die heutigen lächeln lassen wird. „Wer will schon zweiundachtzig werden?“, fragt meine Nachbarin, eben erst alt genug, um wichtige Dokumente zu unterzeichnen. „Jemand, der einundachtzigeinhalb ist“, gebe ich ihr zur Antwort, bevor…

Read More

Innen wie Außen

By

Es herrscht herbstliche Schwüle. Auf Polstern gebettet, auf Rosenblättern, unter Hypnose dem Dämon in die Augen geblickt: Trau, schau, wem! Du sagst: „Als Kind hat man keine Alternative zum Vertrauen, ist man doch auf alles und jeden angewiesen. Jedes noch so furchtbare Lächeln ein Anker und fruchtbarer Acker, jedes Lächeln eine Wurzel. Jeder Halm ein Mast, jedes Blatt gehisstes Segel. Der Wind rauscht über wogende Ähren – der Wind ist immer Singular.“ Wir gleiten durch Glockengeläut, novemberliche Spatzenaktivität, auf der Suche nach Wasser und Krumen, nach Schatten. Du legst eine kühle Hand auf meine pochende Stirn, schirmst mir die Augen…

Read More

Versprochen

By

Ich halte nicht viel von Schwüren. Sie erwecken den Eindruck, man müsste sich in einer bestimmten Sache nicht mehr entscheiden und sei für alle Zeit vor Veränderungen sicher. Götter, Mütter und das Leben müssen als Beschworene herhalten, einzig damit der Schwörer keine lästigen Fragen mehr beantworten muss oder bei Gericht einen seriösen Eindruck machen kann. Schwören gilt gemeinhin als Zeichen von gefestigtem Charakter und wer es ablehnt, wird beargwöhnt. „Die will sich nicht festlegen!“ oder „Der möchte nicht für seine Lügen einstehen!“, rufen die Freunde des Eides dann und müssen aufpassen, dass ihnen dabei der Geifer nicht vom Kinn rinnt….

Read More

Die Bibelleserin

By

Die Bibelleserin liest Verse und bewegt dazu im Takt die Lippen. Die Fältchen um die Oberlippe wippen und zittern erregt vom Wort; die Leserin nickt und atmet schwer. Aus den Höhen des heiteren Himmels springt sie mit einem Mal auf, fast hätte sie vergessen auszusteigen, hastig schließt sie das Buch, den Reißverschluss des ledernen Schutzumschlags. Die U-Bahn hält mit quietschenden, mit fauchenden Bremsen; die Bibelleserin ist allergisch gegen Lautstärke und lässt in größter Anspannung die Kiefermuskeln spielen. „Wer mag der Herr wohl von dieser U-Bahn sein“, ruft ihr ein Flegel hinterher, an der Leserin perlt es ab.

Read More

Andere Zeiten

By

„Da laust mich ja der Affe!“ ist ein Satz, den ich in meiner Kindheit häufig zu hören bekam. Besonders meine Tante Mariedl rief ihn bei jeder auch noch so kleinen Überraschung aus und schlug dazu die Hände über dem Kopf zusammen, dass die dünnen, goldenen Armreifen an ihren Handgelenken klimperten wie die Glöckchen des Christkinds. Mariedl, stets aufgetakelt, als wollte sie zum Karneval in Rio, hatte gewiss ihr Leben lang keinen Affen zu Gesicht bekommen, denn sie stammte aus einem Dorf am Hang eines finsteren Tals und vom Reisen wurde ihr übel. Ich hingegen wurde von meinen unternehmungslustigen Eltern bald…

Read More

Du & Ich-Ich-Ich

By

In den letzten Zügen gelegen, im ersten Zug gen Süden gesessen, durch Tunnel, über Brücken, überbrücke ich Unzulänglichkeiten mit Anzüglichkeit – die Uhr bleibt stehen, die Zeit will nicht vergehen, zerrinnt stattdessen wie Fußspitzen vor müdem Blick. Knie wund und (was fast noch schlimmer ist) Rücken rund vor Kümmernis. Du bist anders als die anderen, denn du bist ausgedacht, setzt dich zusammen aus allen, die ich jemals kannte, ich nannte dich wohl zwanzigmal die Eine, du bist das Meine, du bist ich, gespiegelt im Ich Liebe Dich. Ich bin die Luft zum Atmen, sagst du, doch wer bin ich denn,…

Read More

Das falsche Wort

By

Eigentlich wollte ich Ihnen von Zeloten erzählen. So ein lustiger, kleiner Text sollte das werden, wo drinsteht, dass ich als Kind dachte, Zeloten seien Piloten in Zeppelinen oder kleine Staubkatzen, die wegen dem Putzfimmel der Menschheit vom Aussterben bedroht sind oder dass ich meiner Großmutter immer bei der Zelotenernte helfen musste und es danach wochenlang nur Zelotenmarmelade gab, die zwar appetitlich rot war, aber für meine Kinderzunge ein bisschen bitter schmeckte, so wie das ganze Leben. Sie hätten gelacht, so wie man eben lacht, wenn jemand ein Wort nicht richtig benutzt und das Wochenende wäre geritzt gewesen. Aber ich muss…

Read More