Literarisches

Zeit

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Mein Tag dauert 365 Jahre, mein Tag fliegt vorbei; ich habe mich verzählt, die Augen auf und wieder zu. Gerade liegen die Kinder noch in meinen Armen, sitzen auf dem Schoß & machen Hoppe-Hoppe-Reiter, dann Abitur, unternehmen Reisen, fahren bald Auto, sind eigene Menschen. Ich strecke mich, alle Momente vergangen, verflüchtigen sich, sind steter grüner Nebel. Das Leben ist anders, dachte ich und jeder Augenblick wär um ein Haar die ganze Ewigkeit (und zwei Tage, die du streichen dürftest). „Wenn du sagst“, sagst du, „ich dürfe zwei Tage streichen, frage ich, zerreißt das nicht das Gewebe der Zeit für mich…

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Dazwischen

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Lange bevor der Wecker klingelt, klopft es an meiner Wohnungstür. Zuerst denke ich, die Nachbarin über mir trommelt einmal mehr gegen die nächtliche Stille an, aber das Klopfen ist fröhlich und beschwingt. Ich will mir die Bettdecke über den Kopf ziehen, doch ein dicker Hund liegt auf dem unteren Zipfel und macht sich murrend extra schwer. Seufzend setze ich mich auf. „Was ist denn?“, frage ich an der Tür. Eine fremde Stimme fragt zurück: „Wie wünschen Sie sich Ihren Tod?“ Ich habe einen altmodischen Wecker, der stolz zwei messingfarbene Schellen auf seinem Haupt trägt. Fast möchte ich sagen, der Wecker…

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Adel vergeht

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Der Adel ist mir zuwider. Und das, obwohl ich selbst eine Prinzessin war. Ich weiß, man sieht es mir nicht an. Die Knochen sind zu klobig und mein Teint gleicht eher einer alten Holzschüssel als feinem Porzellan. Aber wenn Sie es nicht zu genau nehmen, sieht mein Kinn nach Habsburg aus. Als ich noch ein Kind war, kutschierte mich der Großvater in einer knallroten Karosse über meine Ländereien. Nichts Besonderes freilich: Ein krummes Tal mit grauscharf gezackten Rändern am Übergang zum Himmel, durchschnitten von einem Fluss, dessen Wasser sich scheinbar träge und zäh durch sein Bett wälzte. Unter der meist…

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September

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Die Hexen feiern Herbstanfang, der Gesang der verbleibenden Vögel verändert sich. Heute Morgen, es war der erste im diesjährigen September, habe ich das Lied des Rotkehlchens erstmals nicht erkannt. Es klang wie eine Rabenkrähe im aufsteigenden Nebel. „Rotkehlchen, was haben Sie für eine schreckliche Stimme?“, fragte ich und es antwortete missbilligend: „Damit ich besser vor dem kommenden Unglück warnen kann.“ Dann sagte der Vogel etwas, das ich nicht sofort verstand. Irgendwas mit ‚Mariechen‘, ich fragte nach. „Im Übrigen mag ich nicht, wie Sie riechen“, wiederholte das Rotkehlchen. „Und ich mag nicht, wie SIE riechen!“, erwiderte ich, doch es war nur…

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Am Tag, als der Regen kam

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Öffentliche Verkehrsmittel haben den Vor- und Nachteil, an den Gesprächen und manchmal auch an den Gedanken der Menschen um einen herum teilhaben zu können. „Todesverachtung ist ja ein hohes Gut. Den inneren Battle gegen Thanatos auszufechten, bringt überhaupt erst Coolness hervor“, sagte ein Mann neben mir mit unangenehm verstellt klingender Stimme. Wir Mitfahrenden schauten einander an. Ich weiß nicht, was der Gesichtsausdruck der anderen ausdrückte, meiner sollte jedenfalls gleichsam Amüsement und mildes Verständnis vermitteln. „Und mit einem Mal wird das Leben millionenfach besser. Es lebt sich leichter, wenn man auch die Existenz seiner dunklen, zerstörerischen Seite anerkennt und sich nicht…

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Das Fell

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Wie auch immer man die Dinge handhabt, irgendwo findet sich jemand, der etwas daran auszusetzen hat. Man muss sich nur Zeit nehmen und hartnäckig sein, am besten auch noch laut und reißerisch, denn unbemerktes Handeln bringt niemanden auf. Folge ich diesem Grundsatz, müsste sich doch auch jemand finden, der mir und meinen Taten frenetisch applaudiert oder wenigstens beifällig dazu nickt. Aber nichts da, von meinen Bewunderern fehlt seit Jahr und Tag jede Spur, mehr als ein Schulterzucken ernte ich nicht für meine Mühen. „Sie sind zu zögerlich, meine Liebe“, erklärt mein Berufsberater „Mehr Gekreisch, mehr Schrillen, Blöken und Tröten ist…

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Für die Verdrängten

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Guten Tag, Entrückter! Guten Abend, gute Nacht – wie hast Du denn Dein Leben bis zum heutigen Tag, bis zur jetzigen Stunde verbracht? Verbraucht siehst Du aus, geschlaucht von Leben, Liebe und schlechter Ernährung. Du willst eine Erklärung für Deinen Zustand? Der Hang zum Bett, die Gier nach Salz und Fett, das zehrt. Das zerrt an Dir und würde wohl an jedermann. Eine Fiesta findet statt. Eine Kapelle spielt. Menschen tanzen und lachen. Hoffentlich schöpfst Du im Gegensatz zu mir Kraft aus dieser Art Veranstaltung. An einigen Tagen ist der Abgrund nur eine Ecke von der Hauptstraße entfernt. Ich erkenne…

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Dem Bußfertigen gehört die Welt

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„Erzählen Sie mir etwas Blaugraues!“, forderte der Prälat. Sehen konnte ich ihn durch das Gitter der Trennwand freilich nicht, doch das Knarzen der Stimme gab seine Identität preis. Nachdem ich tagelang schuldbeladen zu Hause gesessen hatte, stand mir der Sinn nicht danach, mit dem Monsignore Mätzchen zu machen. Ich wollte beichten. „An sich habe ich erwartet, dass Sie mir die Beichte abnehmen“, entschlüpfte es mir patziger als geplant. Der Prälat rutschte auf seinem Stuhl herum, das Holz knarzte, ähnlich wie zuvor seine Stimme. Saß er überhaupt auf einem Stuhl? Ich nahm es an, obschon ich niemals auf seiner Seite gewesen…

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Die Zeiten waren schon mal besser

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An einem dieser lauen Sommerabende saß mir meine sehr mondäne Bekannte Emilia Saloppi beim Abendessen in einem schlecht besuchten Gartenlokal gegenüber. Ihre ungeheure Weitläufigkeit ließ sie in einem lieblos angerichteten Tomatensalat stochern. Ich weiß nicht mehr, wie wir ursprünglich darauf gekommen waren, jedenfalls hatte das Thema ‚Präejakulat – Segen oder Fluch?‘ eine hitzige Wendung genommen. „Ich würde dich bitten“, sagte ich schließlich mit ermattender Stimme, „aufzuhören, es die ganze Zeit ‚Eichelspeichel‘ zu nennen.“ Was ich gegen diesen Begriff hätte, sie wäre sehr stolz auf die Wortschöpfung. Ich winkte ab und fragte, ob sie ihren wirklich unappetitlichen Salat noch essen würde,…

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Das Hier und Jetzt

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Man soll im Hier und Jetzt leben, heißt es. Das ist am gesündesten. Wer sich das ausgedacht hat, dessen Hier und Jetzt ist gewiss nicht so ungemütlich wie das von Lupine Pelzfuß, die mit einer dicken Backe an der Bushaltestelle steht. Ein eitriger Backenzahn hat sie aus dem Haus getrieben. Nun schleicht sie im Schattenwurf des Fahrplanständers hin und her, eingeklemmt zwischen den Erinnerungen an die voller Schmerzen durchwachte Nacht und der Aussicht auf in Latexhandschuhen schwitzende Männerhände in ihrem Mund – beides um Längen angenehmer als das Hier und Jetzt. „Wer also hat sich das ausgedacht?“, fragt ein Uhu,…

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