Literarisches

Das innere Schafott

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„Rache ist nicht mehr gefragt. Der Hass soll ja jetzt abgeschafft werden.“ Sven, der sich, wie es um diese Jahreszeit seine Art war, als Kaiser Marc Aurel verkleidet hatte und verdächtig lang vor dem Fenster stand, um sich von den Kindern im Hof in seiner ganzen Pracht bewundern zu lassen, sprach leise wie im Selbstgespräch. Und wie immer ein wenig überakzentuiert. Dann drehte sich zu mir um. „Ist dir das noch gar nicht aufgefallen?“, sagte er gedehnt. „Die Mächtigen wollen nicht, dass wir hassen. Und so nehmen sie uns die Begriffe für Hass.“ Ich kenne Sven nun auch schon länger…

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Uneins

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Ich habe den Krieg satt. Und das, obwohl ich ihn nur aus den Nachrichten kenne. Ein Vorurteil quasi. Kriege und Vorurteile sind verbreitet im Reich der Kiefermäuler, bloß bei der Menschheit sind sie zugleich unbeliebt. Wir unterscheiden uns von den Ameisen, indem wir uns nicht entscheiden können. Wir möchten edel, hilfreich und gut sein, ohne zu wissen, wie wir das zuwege bringen sollen und blicken voller Neid oder Ungnade auf jene, denen es besser oder schlechter gelingt als uns selbst. Ich sage Ihnen was: Auch davon habe ich genug. Dieses Streben nach Höherem, Schönerem, Besseren, soll ein für allemal vorbei…

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Nichts als die Wahrheit

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Ich werde immer stärker. Ich mache mir meine Schwächen zu eigen und lächle über sie hinweg. Es war nicht alles besser. Früher. Ich erinnere das Hündchen, das an meinem Hosenbein schnüffelt, an das Grau, das alles umgab, an die Skepsis, die jenen entgegenschlug, die anders waren, die bunt sein wollten. Das Unverständnis war groß. Es ließ sich in ihm bequem leben, ohne Zusammenhänge, fast ohne eigene Verantwortung für die Dinge. Freiheit, stimmt der Hund ein jaulendes Klagelied an, das ist die Freiheit, die ich meine. Du kannst mir doch sicherlich die Geheimnisse der Welt eröffnen, schlage ich hoffend vor. Was…

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Nur ein Tag

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Das Schöne an der modernen Welt ist, dass man alles sein kann, was man möchte. Also, sofern man nicht in einer Kobaltmine schuften muss oder der Russe bei einem einmarschiert oder man ewigen Hausarrest von schwerbewaffneten Halbwüchsigen erteilt bekommt oder das Pech hat, als Hausschwein geboren zu werden. Sie sehen, es gibt Ausnahmen, aber im Grunde kann man sein, was und wer man möchte. Ich für meinen Teil wäre gern ein Mann, ein berühmter Mann, wennschon. In die Jahre gekommen und aus dem Leim gegangen, dagegen hätte ich keine Einwände. Ich könnte mit trunkenen Nymphen durch Bacchanalien tanzen und mit…

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Möglicherweise

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Ich könnte ja. Wenn ich wollte. Wenn ich wirklich wollte, würde ich. Immer wieder Gedanken daran. Gedanken, die unerwartet auftauchen, angetrieben von unbenannten Gerüchen der Vergangenheit oder einfachen Melodien; dunkle Gedanken, die sich Platz bahnen, in den Tagesablauf drängen und alles lahm legen. Zur Ablenkung denke ich Quatsch, versuche Schwerhörig- und Schwerelosigkeit in einen literarisch verwertbaren Zusammenhang zu bringen, erinnere mich an bereits geschriebene Geschichten, Charaktere und Gestalten. Da öffnet sich die Wohnungstür, ein Pudel in einer roten Pagen-Livree tritt ein, richtet sich auf und trippelt auf den Hinterbeinen in meine Richtung. „Und?“, fragt er herrisch. „Hast du dich schon…

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Meine Kreise

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Ich drehe mich im Kreis, als sei ich eine Primaballerina. Das wünschte ich mir als Kind schon: In einem rosafarbenen Tutu und seidig glänzenden Ballettschuhen über federnden Holzboden fliegen, springen, Pirouetten drehen. Auf ein Publikum wollte ich allzu gerne verzichten. Für die nächsten 1000 Jahre in einer Zeitkapsel verborgen hätte ich gerne getanzt. Aber das kann man mit einem Kind natürlich nicht machen, obwohl Kinder das Salz der Erde sind. Oder war irgendjemand anders das Salz der Erde? Ist ja auch egal. Hauptsache, ich muss die Menschheit nicht aushalten, mit ihrem empörten Geschrei und diesen Blicken, bei denen man nicht…

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Unveränderte Spielregeln

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Ich stehe im Badezimmer vor dem Spiegel und gebe mit meinem Halbwissen an, dass sich die Wände biegen. „Buckminster Fuller“, knurre ich mir zu, „und Frei Otto und non-euklidische Architektur.“ Ich schnaube verächtlich, denn mir ist schmerzlich bewusst, mit wie wenig Substanz diese Begriffe in mir abgesichert sind. Und so versuche ich, das Thema zu wechseln: Was soll man von den Nachrichten halten? „Welche Nachrichten denn?“, frage ich mit geübt unschuldigem Blick, obwohl mir natürlich klar ist, wovon ich rede. Mich der Sprache des Zeitgeistes anbiedernd, erwidere ich: „Na, der Gamechanger. Stell dich doch nicht dümmer, als du sowieso schon…

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Allerdings

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Es gibt Tage, da erwacht man morgens mit schweren Lidern in einem Bett aus klebrigem Gummi. Allerdings, die Lider kann man sich heutzutage vom Operateur entfernen lassen. Das schützt auch vor Lidkrebs, wie man hört. Und das ist ja das A und O: schützen und vorsorgen. Wobei ich für beides nicht viel übrig habe und für vorsorgliche Entfernung schon gleich dreimal nicht. Allerdings, meine Großmutter hat immer gesagt: Böse Menschen haben keine Lider. Und wer will schon von aller Welt auf den ersten Blick als böser Mensch erkannt werden, nur um morgens besser aus dem Bett zu kommen? Ich jedenfalls…

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Hängt den Lurch!

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Wie oft kann man berechtigterweise „Hängt den Lurch!“ rufen, bevor man selbst zum Lurch wird? Reinhard wollte nicht immer schon Künstler sein. Lange Jahre war ihm der Gedanke, sich in einem Getränkemarkt, irgendwo in der deutschen Provinz, bis zum Abteilungsleiter hochzuarbeiten, nicht fremd und nicht unangenehm gewesen. Rechtschaffene Arbeit erschien Reinhard ein erstrebenswertes Ziel. Nicht um Reichtümer anzusammeln, aber immer so viel Geld ‚auf Tasche‘ zu haben, dass man berechtigt wäre, am Spiel der Erwachsenen teilzunehmen. Bis ihm eines Tages der Geist des Mädchens, in das er zu Grundschulzeiten verliebt gewesen war, auf dem Weg zur Restmülltonne begegnete. Das Mädchen…

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Das Odikolon

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Als ich vor ein paar Tagen am Briefkasten vorüberging, stieg mir der Duft von Kölnisch Wasser in die Nase, mit dem mein Vermieter seine Briefe zu parfümieren pflegt. Voller Unbehagen nahm ich den lila Umschlag in die Hand und befühlte ihn vorsichtig. Nur ein Blatt. Sehr geehrte Mieterin … blablabla … im Angesicht der rasenden Inflation sehen wir uns gezwungen … blablabla … Mieterhöhung um 15% … blablabla … gesetzeskonform. Sollte ich die Erhöhung ablehnen, stünde es mir frei, zur bisherigen Miete in den Fahrradschuppen zu übersiedeln. Als Dank für jahrelange Treue würde mir in den nächsten Tagen ein Fläschchen…

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