Auf dem Abstellgleis

Anstatt zum hundertsten Mal die Geschichte zu erzählen, wie ich ins sonnige Spanien gereist bin und dort eine Ausbildung zum Torero machte, werde ich heute von einer Zugfahrt ohne besondere Vorkommnisse berichten.

Ich fand mich im Morgengrauen am Bahnsteig ein, denn wer wie ich über keinerlei Ersparnisse verfügt, muss unkomfortable Abfahrtszeiten in Kauf nehmen. Eine Platzreservierung leiste ich mir trotz des schmalen Budgets. Seit ich einmal 36 Stunden auf dem Gang eines Bummelzugs nach Skopje mit einem Regiment Soldaten und ihren Socken verbringen musste, mag ich auf einen Sitzplatz nicht mehr verzichten.

Der Zug war alt und schäbig, auf den Polstern im Abteil klebten muffig die Reste von Reisefieber und Abschiedsschmerz, die sich im Laufe der Jahrzehnte auf den Fahrten dort abgelagert hatten. Ich stellte eine Thermoskanne mit Kaffee ab und hielt mir, in der Hoffnung, es würde redselige Mitreisende von Plaudereien abhalten, ein Büchlein vor die Nase.

Es muss kurz nach Sonnenaufgang gewesen sein – draußen schwebte ein morgendlicher Nebel in apartem Rosa über die Felder – als sich die Tür meines Abteils öffnete und ein Herr eintrat. Seine Augen waren hinter einer Sonnenbrille verborgen und er reiste offenbar ohne Gepäck. Nur einen Gehstock mit silbernem Knauf trug er bei sich, obwohl er nicht hinkte oder sein Gang sonstwie eingeschränkt gewesen wäre. Er grüßte mich mit einem Nicken und ich senkte meinerseits kurz das Buch und bewegte den Kopf in grüßender Geste.

Nachdem wir unsere Reise einige Stunden schweigend fortgesetzt hatten, sagte er:

„Ei, werte Dame, ob Sie mir wohl ein Schlückchen von Ihrem Kaffee überlassen würden? Ich will Ihnen auch ein Liedchen dafür singen. Darauf verstehe ich mich nämlich.“

Da das Buch mein Interesse ohnehin nicht sonderlich zu fesseln vermochte, willigte ich ein und schenkte ihm einen großen Becher voll, den er aus seiner Manteltasche hervorholte.

Er sang wie ein betrunkener Engel. Seine Stimme trug mich fort zu geheimnisvollen Winkeln und wundersamen Orten, so dass ich am Ende meinen Zielbahnhof verpasste, wo mein Verlobter und die Hochzeitsgesellschaft vergebens auf mich warteten.