Auf Handlungswegen

By

„Bitte recht freundlich!“ rufst du dem Maskottchen im Bärenkostüm zu. Es kann nicht anders, als darüber milde zu lächeln. „Jauchze! Frohlocke!“ Doch es winkt ab. Man muss nur wollen, man muss die Dinge nur wollen. „Sollen wir uns wiedersehen?“ rufe ich ihm nach, es hört mich nicht. Ein Seemann hält ein Ruder im Arm und spielt darauf eine leise Weise, die Mitfahrenden wippen mit den Füßen im Takt dazu. Mit einem Mal hält er inne, er hat nicht verstanden, welche Station die Lautsprecherstimme angekündigt hat. Er zuckt die Schultern, fährt fort sein fremdes Lied zu singen. Als es zu Ende…

Read More

Als ich Liberal – Esoteriker war

By

Im Anfang war das Wort und das Wort erbrach sich auf mein Sofa und sah irgendwie fiebrig aus. Es lag mit trüben Augen, eingepackt in Tagesdecken und stockfleckige Laken und klapperte mit seinen kleinen Zähnen, dass einem angst und bange werden konnte. Also beschloss ich, das Wort liebzuhaben, denn es war fürchterlich allein. Ich nahm das Wort auf den Schoß, tupfte es mit einem frischen Lappen trocken und erzählte ihm von der Welt, die ich schon kannte und von der es noch nichts wusste. „Vor langer Zeit lebte ein Handlanger und sein Name war Kallemann. Kallemann besaß nur einen dreckigen…

Read More

Goethe – Rede an die Akademie

By

Geschätzte Delegation, verehrte Gesandte, liebe Kinder! Ich beginne mit Goethes Farbenlehre. Die Biene: Gelb, schwarz, gelb, schwarz, gelb und schwarz. Nun Dichtung: Ohne Federlesen, ohne Sachzwang oder ohne Wahrheit. Sie wissen, was man sich vom Geheimrat Goethe erzählt? Er sei sehr klein gewesen, nur fünfunddreißig Zentimeter groß und dabei war der Zentimeter damals nicht einmal so viel wert wie heutzutage. Die Menschen wollen meist nichts davon hören. Ihnen ist Goethe ein Übermensch, kein Tag vergeht, ohne dass diese Menschen ein Beispiel aus seiner berühmten Farbenlehre zitieren. Die Biene: Gelb und schwarz, gelb und schwarz gestreift. Mir ist Goethe kein Heiliger…

Read More

Handeln ist gleich Nicht-Handeln oder 7 Nachteile, ein denkbarer Nachteil und ein Vorteil

By

Geht man zu lange mit einer Idee schwanger, verlässt sie einen. Das ist ein Nachteil. Lässt man einen Toten auferstehen, wird dieser von schlechtem Geschmack im Mund gequält. Das ist ein Nachteil. Redet der Auferstandene von seinen Erlebnissen als Toter, leidet man unter dem faulen Atem des Auferstandenen. Das ist ein Nachteil. Wenn der Auferstandene mit seinem faulen Atem dann noch so abgestandene Dinge sagt wie „Es gibt zu viele Gelehrte auf der Welt und zu wenig kluge Menschen”, möchte man einzig und allein, dass er sein stinkendes Maul hält. Das ist ein Nachteil. Bittet man den Auferstandenen ins Badezimmer…

Read More

Versuch über Krampus, Sebastokrator heutiger Zeit

By

Träger von Tiermasken trennen Müll und dehnen Silben, wenn sie sprechen, wecken in mir ein Gefühl, das jenem ähnelt, unabgeholt, ja unabholbar auf Gleis 3 des Hauptbahnhofs in Hamm zu stehen und zu warten. Der Geschmack in meinem Mund wie getragene Socken aus Polyester. Wenn es draußen kühler wird, wird es innen zwangsläufig wärmer. Ein junger Mann bläht seinen Brustkorb auf dreifachen Umfang und versucht Ruhe für seine Lektüre durch Starren auf die Lärmquelle zu erlangen. Es sind eine Jungfrau, ihre Mutter und eine Greisin, die abwechselnd, lauthals und unablässig verschiedene Strophen von „Es ist ein Ros‘ entsprungen“ anstimmen. Westfälische…

Read More

Das ist ja ein Versuch über Österreich (1996)

By

Paris in den Siebziger Jahren. Peter Handke hatte Hitler gefrühstückt. Wessen literarische Gestalt er heute sein würde, wusste er nicht. Das Kindermädchen war bestellt (eine Freundin sollte sie begleiten); der Nachmittag war vereinbart. Die Tochter spielte mit ihren Bauklötzen und die Sonne schien. Trotzdem lag Führerlaune auf Peter Handkes Gesicht. Er griff zu Notizblock und Bleistift und schrieb: Welchem jungen Bi-Boy, 18 bis 27, kann ich, diskret und unausgelastet, Nacktfotos meiner Ex-Frau zeigen? Außerdem Lust auf Sehen, Zeigen und Wichsen (kein Anal), oder auf einen gemeinsamen Bordellbesuch. Es entstehen keine Kosten. Erbitte Antwort mit Bild und Telefonnummer. Peter Handke faltete…

Read More

Idee für den Entwurf eines vorläufigen Konzepts für ein Theaterstück von epischer Länge (1984)

By

Es geht irgendwie um Macht, zwei Frauen legen sich, Rotwein trinkend, Patiencen oder gegenseitig Tarotkarten. Es ist dringend und zwingend, dass wirklich Rotwein getrunken und der Verfall des Sprachvermögens unter Alkoholeinfluss dem geneigten Publikum Abend für Abend vor Augen geführt wird. Anfänglich unterhalten sie sich über vergangene Liebschaften. Eine der Frauen ist Physikerin und sie verwendet ausschließlich Metaphern aus der Wissenschaft. Die andere Frau betrügt beim Kartenlegen. Sie besprechen die Karten (Gelegenheit für betrunkene Gesprächsimprovisation zu beliebigen, mystisch klingenden Themen). Später kommt ein Gerichtsdiener auf die Bühne; er spricht juristisch, was jedoch beide Frauen nicht verstehen. Sie verspotten ihn als…

Read More

Die Flucht nach Sonstwohin

By

Durchs Treppenhaus heult Höllenwind, Nachbarn verriegeln Türen; anderthalb Momente später sitzt du auf den Stufen, betrachtest durch die Milchglasfenster das Herabfallen der vorletzten Blätter und hältst meinen Brief in den Händen: „Wenn du das hier liest, bin ich schon in meinem Ruderboot auf Weltumrundungsreise. Längengrad um Längengrad komme ich voran und Tage, viele Tage liegen hinter mir. Ich trüge keine Liebe in mir, sagtest du zum Abschied und ich hatte keinen Grund, an deinen Worten zu zweifeln. Dann pfiffst du dir und mir ein Liedchen und die Melodie verhakte sich in meinen Erinnerungen. ‚Wohlan!‘, begrüßen mich Delfine und verziehen die…

Read More

Macht der Gewohnheit

By

Kardinal Gänswein kann nicht schlafen, Kardinal Gänswein schaut fern: Ein Mann geht durch die Wohnung. Er betätigt den Lichtschalter. Der Raum – es ist die Küche – bleibt dunkel. „Nun bin ich schon seit 27 Jahren blind und mache noch immer das Licht an, wenn ich ein Zimmer betrete.“ Er lächelt an der Kamera vorbei. Schnitt. Innenaufnahme der geschmackvoll beleuchteten Nachbarwohnung. Eine Frau in mittleren Jahren sitzt auf der Couch und legt das Strickzeug zur Seite. „Ich habe ihm“, sagt sie, „schon vor Jahren alle Glühbirnen gegen Plastikobst ausgetauscht. Und er denkt immer noch, es würde hell, wenn er den…

Read More

Nostalgia

By

Jeden Tag eine Meile Bockspringen, jede Stunde einen Einlauf. Jeden Sonntag einen Bohneneintopf, jeden Sommer ein Glas Kirschen. Kirschen bringen Glück, so sagte man schon im Alten Japan, so sagt man heute noch in Kamerun; im Griechenland der Antike kannte man noch keine Kirschen. Dort färbte man Oliven rot und hängte sie in die Bäume. Die alten Griechen sind mittlerweile tot. Und all ihre Feinde auch. Geblieben sind die Oliven an den Zweigen. Die leuchten im Mondschein den Fischern den Weg zum sicheren Hafen, sind Unterpfand der dortigen Wirtschaft und noch immer Leitmotiv für manch jungen Wandersmann. Eines beschäftigt mich…

Read More