Tagebucheintrag 3.September

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Mein Vater, so erzählte es Mutter gerne, war ein rollender Stein. Wo immer er seinen Hut ablegte, fühlte er sich zu Hause. Ich kann mich nur noch bruchstückhaft an ihn erinnern, an einen untersetzten Mann, dessen genetisches Erbe ich zu meinem Leidwesen in mir trage: kurze Beine, schlechte Augen und einen bestenfalls als wackelig zu bezeichnenden Urogenitaltrakt. Wenn er dann und wann seinen Hut in unser bescheidenes Heim legte, war meine Mutter eine verwandelte Frau, im Alltag eher weinerlich reserviert, blühte sie während seiner Besuche auf und wurde von einer mir unbekannten Heiterkeit besessen, die manische Züge annehmen konnte. Wir…

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Eigentum

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‚Eigentum ist Diebstahl‘ steht auf dem Schild, das, auf der letzten Demonstration fallengelassen und liegengeblieben, mir während meines wöchentlichen Nachmittagsspaziergangs erst auf den zweiten Blick ins Auge fällt. Bis vor kurzem hätte ich es wohl völlig übersehen; es wäre mich nichts angegangen und ich hätte inhaltlich bestenfalls semi-interessiert zugestimmt, aber seit neustem bin ich Besitzer einer 4200 ha großen Organplantage. Ich züchte Menschen. Das klingt aufregender als es ist, denn ich muss nicht viel tun. Unterkunft stellen, mich um Nahrung und eine medizinische Grundversorgung kümmern, sind ja keine Tage füllenden Tätigkeiten. Manchmal muss ich abends an die Fenster der kleinen…

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Weit hinter dem Scheideweg

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„Immer mit der Ruhe! Einer nach dem anderen: die Frau und die Kinder zuerst!“ Kapitän Wahab geht im Kopf die notwendigen Maßnahmen zur Evakuierung eines Ausflugsdampfers durch. Jetzt, da sich seine Seeräuberkarriere ihrem Ende nähert, ärgert er sich doch, nicht den Weg der zivilen Seefahrt gegangen zu sein, zivil und vor allem rechtmäßig; das Piratenleben ist ihm, den zahlreiche Gebrechen und Wehwehchen plagen, nurmehr ein böser Traum. Wenn er wieder einmal mitten in der Nacht, schreiend und mit vor Schreck aufgerissenen Augen erwacht, wirken seine Lebensentscheidungen längst nicht mehr so erstrebenswert und glamourös wie in seiner Jugend. Um wie vieles…

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Zeitenwechsel

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„Teilweise hast du recht“, sagte Irmgard, den Tonfall ihres Mannes nachahmend, wenn der mal wieder genervt von der Einfalt seiner Mitmenschen, sich anschickte, sein überlegenes Wissen mit der Welt zu teilen. „Es ist niemals nur schwarz, niemals nur weiß, wenn man sich traut, die Theorie mit der Praxis zu vergleichen. Auf dem Papier kann man natürlich klar unterscheiden, was richtig und was falsch ist.“ Sie nahm einen herzhaften Schluck aus der Bierflasche. Das Bier war warm und schal, abgestanden wie Deodorant an einem schwülen Tag; sie hob den Arm ein wenig und roch an ihrer Achselhöhle. Ihr Mann stierte auf…

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Frühjahrstag, warm

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Ich wünschte, ich wäre der Schmetterling auf deinem Dekolletee. Das stelle ich mir lohnend vor: Als Bild auf deiner Haut die Welt zu betrachten. Du könntest mich herumtragen, mir all deine liebsten Stellen in der Stadt zeigen, deine Zufluchtsorte. Ich hingegen gäbe dir etwas Verwegenes, eine Aura des Aufruhrs im Rahmen des gesellschaftlich gerade noch Akzeptablen. So wäre uns beiden gedient; ich käme mal wieder raus und du könntest diejenige sein, die du gerne wärst und bist. Doch wer bin ich, dass ich es auch nur wagte, dich länger zu betrachten, als es in unseren Breiten schicklich ist? Passend dazu…

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Die Polterer

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Vor gar nicht langer Zeit halfen mir die Polterer mein Leben zu meistern und zu gestalten. Die Polterer sah und hörte niemand außer mir und wenn sie des Nachts nicht durch meine Wohnung huschten und die Tätigkeiten verrichteten, die tagsüber liegengeblieben waren, hörte ich ihre Stimmchen in meinem Kopf. Sie stritten viel; obwohl sie es ‚debattieren‘ nannten, war viel leicht vernehmbarer Hass zwischen ihnen. „Seid still!“, rief ich ihnen eines Tages zu, als es in meinem Kopf mal wieder hoch herging. Kurz verstummten sie, doch bald darauf schnatterten sie lauter als zuvor. Ich beschloss, einen Spaziergang im Umland zu unternehmen,…

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Grundfließbild

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Zwei Abwasserrohre aus Stahl trafen sich an der Straßenecke und verfolgten die Konversation eines Paares, dessen beste Zeiten lang vergangen waren: „Ich habe es im Ohr. Jetzt warte doch mal! Ich komm gleich drauf.” „Hm, vielleicht ist die Melodie gar nicht so wichtig. Vielleicht reagierst du jetzt über.” „Aber es ist doch ‚Unser Lied‘. Erinnerst du dich nicht?” „Wir haben doch gar kein Lied. Wenn ich ein Lied habe, geht dich das überhaupt nichts an. Du hast vielleicht auch ein Lied, aber wen interessiert das schon? Du bist viel zu ich-fixiert. Denk doch nur einmal an andere! Mich zum Beispiel….

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Neues nicht so gut, Altes nicht so wahr

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Vieles passiert. Vieles passiert jeden Tag: Trauerfälle, Hochzeiten, Bindungen, Lösungen, unlösbare Situationen, Fortschritte, Rückschläge. Das an sich ist nichts Ungewöhnliches. Was es bemerkenswert macht, ist die Erkenntnis, dass Dinge auch ohne mein Zutun geschehen. Was wäre die Welt für ein Ort, frage ich mich, nähme ich wieder aktiv am Leben teil? Wäre ich beispielsweise mobil und wie noch im Sommer in der Stadt unterwegs, hätte ich wahrscheinlich vor einigen Tagen meinen alten Freund Viktor getroffen. Eine Supermarktkassenbegegnung, man kennt das ja: Und wie geht’s? Hast du inzwischen mal wieder was von der & der gehört? Ist sie noch mit soundso…

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Der Städteplaner

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„Wenn Sie so freundlich wären, ein wenig zur Seite zu rücken, würde ich Ihnen gerne meine Geschichte erzählen. Aber erst geben Sie mir bitte meinen Taler zurück – der ist mir aus dem Beutel gerollt.“ Der emeritierte Professor für urbanen Städtebau und Flaschensammler Phillip ‚Thunderdome‘ Kloppenburg ist heute in Redelaune. Um konkurrenzfähig Flaschen zu sammeln fehlt ihm mittlerweile die Spritzigkeit, aber für ein Zubrot reicht es noch. ‚Das Geld liegt auf der Straße‘, pflegt er zu sagen und hat natürlich recht. „Sie wundern sich sicherlich über mein blaues Auge – das ist ein Andenken an Frau Majakowski, diese diebische Schnapsdrossel….

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Oneirologie

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Kaum-Ich: Du willst mir weismachen, du weißt nicht, was es bedeutet, wenn man von Federn und Münzen träumt? Nicht-Ich: Ja. Kaum-Ich: Ich kann es nicht glauben. Entweder willst du mich auf den Arm nehmen oder du bist ein größerer Trottel, als ich ohnehin schon angenommen habe. Nicht-Ich: Sag du es mir; was bedeutet es, wenn ich im Traum mein Kopfkissen anhebe und ein Haufen Federn liegt da auf dem Laken, groß, als hätte ich einen verdammten Kondor oder einen Pelikan geschlachtet? Nenne mich Trottel, aber ich habe wirklich keine Ahnung. – Und was die Münzen betrifft, die mir ausgehen, während…

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