Tränende Herzen

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Frau 1: Läuft. Momentan. Läuft richtig gut. Frau 2: Was ist mit deinem Gesicht? (betroffen) Was ist denn passiert? Frau 1: Ach, das ist nichts. Ein kleines Unglück nur, ein Fehltritt. Weiter nichts. Möchtest du eine Schokolinse? Frau 2: Ich glaube, das musst du behandeln lassen. Frau 1: Habe ich. Habe ich doch schon. Frau 2: Und? Was sagt der Arzt? Frau 1: Das war kein Arzt, das war die Blumenhändlerin. Die hat mir Tränende Herzen gegeben und die sollte ich mir am Vormittag auf die Wunde tun. Da habe ich mich in den Park gelegt und mich gesund geruht….

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Mit Sicherheit – in Gedenken an Yusuf ibn Taschfin

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Die junge Frau hält sich zur eigenen Sicherheit an ihrer elektronischen Fußfessel fest, ein Gerät, dessen strahlendes Lächeln bis zu mir herüberscheint. Ich kneife die Augen zusammen und messe die Distanz zwischen ihr und mir. Sie fragt entrüstet, warum ich ihr mit meinem Maßband an den Beinen herumfummle. Ich lache nur und fahre fort. Sie erhebt sich, wischt mich wie eine lästige Fluse von ihrer Nylonstrumpfhose. „Was wissen Sie überhaupt von der Macht sozialer Netzwerke?“, schreit sie. „Ahnen Menschen wie Sie eigentlich, unter welchem Druck ich stehe?“ Sie schnaubt verächtlich und verlässt das Zugabteil. Ich bleibe zurück und rolle versonnen…

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Wo Kerker sind, atme ich die Luft meiner Jugend

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Den stieren Blick hat mein Bruder von unserer Mutter geerbt. Am Abendbrottisch belauert mich Etzel und wartet nur darauf, dass mir ein Missgeschick unterläuft. Schon ist es passiert: Drei Maiskörner, die eigentlich sicher auf meiner Gabel lagen, fallen auf ihrem Weg in meinen Mund zurück auf den Teller. Etzel feixt. „Weißt du, woran mich die derzeitige politische Weltlage erinnert?“, fragt er. „An den einen Winter, als du immer versucht hast, deine Füße mit Klarsichtfolie vor der Kälte zu schützen. Weißt du noch? Weißt du noch, wie das ausging?“ Ich nicke und schiebe mit dem Zeigefinger Mais auf meine Gabel. Etzel…

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„Der Galgenmann“ aus „Der schreckliche Feuerbach“

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Sind wir in den letzten Stunden, die mir Jahre waren, Achterbahn gefahren: Ich liege wie tot, kann mich nicht bewegen, kann die Augen nicht öffnen. Ich weiß nicht, wie es dem Jungen geht, weiß nicht, ob Viktor noch lebt, ich weiß nicht, ob ich den Morgen sehen werde. Erst bin ich gefallen, ungebremst ins Unbegrenzt, ins Bodenlose. Der Junge hat geschrien, Viktor geweint. Ich habe geglaubt, ich habe gemeint, die Welt geht unter und wir mit ihr. Als wir die Pflanze an ihren Blättern aus dem Eimer ziehen wollten, brüllte sie, dass wir erschrocken innehielten. Es war der Junge, der den Einfall hatte, das Gesträuch mit Hilfe…

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Zivilisation ist ein zerbrechliches Gut

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Wer mag der Herr wohl von diesem Bahnsteig sein? Das Militär ist da, weitgehend unbewaffnet, wie es scheint, mit dem Seesack auf der Schulter und vergangenem Tod im Blick. Die Soldaten grüßen einander zackig, weil sie es so gewohnt sind. Doch irgendwas ist heute anders als sonst. Kleinigkeiten im Verhalten deuten es an; ein kurzes schiefes Lächeln, eine Berührung an der Schulter, die länger dauert als das erwartete Boxen, als der kameradschaftliche Knuff, und eine Plastikblume am Revers, alles deutet auf Abschied. „Wenn ihr dem krummen Gefick einheizt, vergiss nicht, ihnen einen von mir mitzugeben!“ Der gerade dem Stimmbruch entwachsene…

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Das Heutzutage einmal in Willkür betrachtet

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Vor 20 Tagen ging es auf Erden noch ganz anders zu: Wollnashörner, Säbelzahnkaninchen und ein frischverliebtes Anakondapärchen überquerten den Zebrastreifen nahe der Markthalle, wo ich saß und mit den Fingern Rippchen aß. Ein Feuervogel kreiste tief am Himmel, ich schloss daraus, dass es bald Regen geben würde. Und ich täuschte mich nicht: Kurz darauf goss es wie aus löchrigen Schöpflöffeln, es goss Pech und Schwefel, es goss schillernde Batzen. Die Menschen wussten nicht aus, die Menschen wussten nicht ein – sie wussten nicht einmal, wie spät es war und jemals wieder werden würde. Ich hatte einen kleinen Topf zu meinen…

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Die Schattenseite der Gentrifizierung

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Ein anderer Tag, die selbe Baustelle: Man hat heute Nacht einen Fuchs gefangen, mit einem einzigen Hammerschlag auf den Kopf getötet und ihm die Haut abgezogen. Das nackte Fleisch hat man den Ratten zum Fraß vorgeworfen. Und überhaupt, die Bauarbeiter haben einen Narren an den Ratten gefressen; sie bringen ihnen Lieder, die fremd in meinen Ohren klingen, und Kunststücke bei. Sie schütten Bier in Helme, um den berauschten Nagern beim Streiten zuzuschauen und um auf den Ausgang der Kämpfe zu wetten. Da wechseln nicht selten größere Summen den Besitzer und mancher Arbeiter musste schon zerknirscht nach Hause schreiben, dass diesen…

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Das Wiedersehen

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In der U-Bahn mir gegenüber sitzt ein kleiner Mann – er lächelt mich erkennend an – und lässt vom Sitz die Beine baumeln. Für ihn bin ich ein Riese wohl, er sieht’s mir nach. „So trifft man sich wieder“, sagt er und nickt mit seinem großen Kopf. „Wie geht’s uns denn dieser Tage?“ Ich murmle Unverbindliches in der Art von ‚Man kommt so durch. Wenn man es tut, ist nichts leicht im Leben’; ich hoffe, dass das Gespräch damit beendet ist. Doch mitnichten, er gluckst und kichert, er hebt den stummeligen Zeigefinger und fragt: „Haben Sie schon einmal, wie ich,…

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Randnotiz

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Die Welt birgt keine Geheimnisse. Nichts, was nicht dutzende Male von jedem Einzelnen schon gedacht worden wäre. „Oh, wie klein und unbedeutend der Mensch doch ist!“, denkt Herr Gimpel laut, als er sich in einer lauen Nacht den Sternenhimmel besieht. Frau Gimpel beeilt sich ihm beizupflichten, denn sie weiß, dass seine Geduld begrenzt ist. „Angesichts der Unendlichkeit ist der Mensch nur eine Randnotiz, eine Laune des Zufalls.“ Ihr Mann nickt grimmig und schiebt sein Kinn vor, denn er weiß von Fotografien und dem Blick in den Spiegel, dass dieser Gesichtsausdruck den energischen Anteil seiner Persönlichkeit unterstreicht und betont. „Und gerade…

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Die Grenzen der Marktwirtschaft

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„Das ist doch an gegelten Haaren herbeigezogen!“, ruft Ruth empört und verspeist einen Pfirsich, den sie unlängst gestohlen hat. „Jeder halbwegs Denkende weiß doch, dass Mundraub im Grunde gar nicht möglich ist. Besitz ist ein Unding, ein Verbrechen, der Besitz von Nahrungsmitteln aufgrund ihrer beschränkten Haltbarkeit geradezu unmöglich.“ Der Spekulant beschließt, auf steigende Lebensmittelpreise zu wetten und gewinnt jedes Mal. „Trinkwasser ist kein Menschenrecht“, sagt er. „Wie sollte es sein? Wie könnte es sein? Auf unserer schönen Erde gibt es nur zwei Arten von Menschen: die Brunnenbesitzer und die Nicht-Brunnenbesitzer. Und da ich sehr oft durstig bin, gehöre ich lieber…

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