Der Eremit

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Nun liege ich schon seit mehreren Jahrzehnten in meiner Mönchszelle auf meiner vor Dreck starrenden Pritsche und betrachte meist die Zimmerdecke und den dichten Vorhang, der bis zum Boden reicht und das Licht draußen vor dem Fenster hält. Meine Haut ist dünn wie Butterbrotpapier und wenn ich des Nach-oben-schauens müde geworden bin, sehe ich dem Blut beim Fließen durch die Adern zu. Irgendwo in der Außenwelt schreien immer Kinder. Der Name eines bestimmten Jungen wird heute besonders häufig gerufen und ich wünschte, er würde endlich ansprechen. „Daniel!“, brüllen sie, „Daaaaaa-niel! Daaaaaaaaa-niel!“ Es ist kaum zu ertragen. Entweder ist der Junge…

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Was weiß die KI vom Frühling?

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„Sicher nicht!“ Zwei Schriftsteller stehen unangenehm nah beieinander und mustern den Kampfeswillen des jeweils anderen. „Sicher nicht“, äfft der zweite den ersten nach. „Bleib mir vom Leibe mit der Modernität! Gib mir ein Tintenfass und einen Gänsekiel!“ „Du weißt, dass das Quatsch ist, was du da sagst, oder? Ich behaupte ja nicht, dass wir nicht mit der Zeit gehen sollen – ich sage lediglich, dass ich nicht in einer Welt leben möchte, wo die Menschen niedrige Arbeiten für einen kargen Hungerlohn verrichten und die Maschinen Zeit und Muße haben, Bilder zu malen und Geschichten zu schreiben.“ Der zweite Schriftsteller schubst…

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Lebensumstände

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Ich wohne in einer zentral gelegenen 2½-Zimmerwohnung ohne Balkon und Meerblick. Seit zwei oder drei Jahren habe ich keine Nachtigall mehr gehört. Vorher jedes Jahr, bestimmt 20 Frühlinge hintereinander. Eines Morgens bemerkte ich zu meiner sehr geringen Freude, dass sich mehrere Kohorten Termiten ein Lager errichtet, und sich häuslich in meinem großen Zimmer, das ich in besseren Tagen als Wohn- und Musizierzimmer nutzte, niedergelassen hatten. Groß war mein Erstaunen, mäßig mein Entsetzen ob meiner sehr dynamisch erscheinenden Mitbewohner; sie waren äußert aktiv und schufen Behausungen, Gebäude von nahezu graziler Anmut, die selbst ein in architektonischen Dingen unbewanderter Mensch wie ich…

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Beim Kunstarzt

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Seit einiger Zeit gehe ich regelmäßig zum Kunstarzt, um mir die Kreativitätsdrüsen ausdrücken zu lassen. Ich komme ja jetzt in die Jahre, in denen nicht mehr alles automatisch flutscht und bin ganz froh, dass ich nach langem Suchen endlich einen Facharzt, eine ausgewiesene Koryphäe, von einer befreundeten Illustratorin empfohlen bekommen habe. Der Kunstarzt ist nicht auf eine Gattung spezialisiert. Das ist für mich von besonderem Vorteil, da ich beim Markieren meines seelisch-geistigen Reviers kaum mehr kontrollieren kann, ob ich ein Lied komponieren, ein Bild schaffen oder einen Text verfassen werde. Dem Doktor ist es einerlei; er behandelt Dichtende, Musizierende und…

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Passion

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Für die Sünden der Menschheit zu sterben, sich zu opfern, ist ja leicht für einen jungen Mann. Was hat man denn schon zu verlieren? Ich habe es mittlerweile im Kreuz; es zwickt und zwackt, es zieht und zerrt; das Alter nagt, es zehrt an mir. Ich wollte immer sein wie er, in Gedanken war ich wohl schon er, bereit mich aufzuopfern, dem Leben von der Schippe zu springen. Das hätte dem Ganzen einen Sinn gegeben. 6, 11, 29, 30, 35, wo kamen dann plötzlich die Zahlen her, ich wäge ab, mal so, mal so, und denke, es ist gut, weitergelebt…

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Prozessor Hastig

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Neulich hatte ich Grund zu feiern und beschloss, mir trotz der großen Teuerung, die über das Land gekommen war, einen Falafel zu kaufen. Ich bestellte einen Teller und schaute mich im Laden um; ich war längere Zeit nicht mehr ausgegangen. Sie hatten natürlich die Preise erhöht und die Portionen verringert. „Alle Soßen?“, fragte mich der Händler. „Oder lieber nicht?“ Ich nickte, was seine Frage nicht beantwortete, aber mein Blick war auf einen unförmigen Kasten neben dem Drehspieß gefallen. „Was ist denn das für ein Ding da hinten? Das war aber letztes Mal noch nicht da.“ Er schüttete mit einer kleinen…

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Fotogen

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An den Wänden Kalender vergangener Jahre, ein einzelnes Kinderbild daneben. Ich sei, so wurde es mir durch stete Wiederholung ins Bewusstsein geträufelt, ausgesprochen fotogen. Das muss etwas ganz besonders Gutes sein, so deutete ich die Blicke meiner Eltern auf die Bilder in den Papierumschlägen, die noch einen Hauch von Entwickler trugen. Lichterregend, so erklärte meine Schwester, sei das deutsche Wort für meine Eigenschaft, und das leuchtete mir ein, funkelte ich doch mit den Frühlingstagen um die Wette. Kaum dass ich auf Mitmenschen traf, erstrahlte ich, glühte förmlich, spendete Helligkeit und Wärme, als gäbe es kein Morgen. Heute verbringe ich die…

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… außer man tut es

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Ich lasse seit neuestem meinen inneren Schweinehund die Texte schreiben, die mir das Leben diktiert. Der sitzt dann statt meiner am Schreibtisch, während ich mich um andere Dinge kümmere. Ab und zu schaue ich bei ihm vorbei, frage höflich, ob ich ihm zu seinem Glück irgendwas reichen könnte, das Wasser etwa oder eine Handvoll getrockneter Linsen, und wenn er verneint, was er eigentlich immer tut, dann lasse ich ihn in Ruhe weiterarbeiten. Wenn er jedoch durstig ist oder einem kleinen Snack nicht abgeneigt, dann kommen wir wie heute ins Gespräch. „Worum geht’s denn?“, fragte ich unverbindlich. Der Schweinehund spülte die…

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Krankenbesuch

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Zu Gast beim Elefanten, beim Verwandten, dem grauen Vorstadtdilettanten, dir Onkel in lebendem Angedenken will ich etwas schenken, mich bedanken, beim Onkel, beim Kranken. Das Teppichmesser singt, von Ferne klingt ein Lied wie schon zu Kinderzeiten. Du widersprichst, ich halte einen Finger vor die Lippen – wir wollen nicht streiten: Nicht am erdachten Horizont. Hohles Pfeifen, und am Himmel weiße Streifen, wir greifen nach ihnen, wieder einmal nach Wolken, nach Zahlen, nach Wahrscheinlichkeiten, ich schlucke angesichts deines Zustands den schalen Geschmack hinunter. Werde wieder munter, rufe ich beim Gang nach draußen dir noch zu. Du hebst die Daumen, wie zur…

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