Gespräche mit Tacheles

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Zwischen den Jahren besuchte ich meinen Bruder Tacheles im Pflegeheim. Wie immer brachte ich ihm eine wohlriechende Salbe mit, für die tiefen Furchen in seiner Stirn, die er vom dauernden grimmig Dreinschauen bereits seit seinem vierzehnten Lebensjahr hatte. Er warf das Töpfchen aus mattem Glas achtlos in eine Schublade. Schon ein paar Tage vor meinem Besuch aß ich nur noch Tütensuppe und trug zu enge Rollkragenpullover aus Synthetikfasern, die meine Haut zerkratzen und in der Dunkelheit boshaft Funken sprühten. Er sollte ja nicht denken, ich hätte ein schönes Leben. Mit großem Argwohn musterte er mich, suchte in meinem Gesicht und…

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So ein schnappendes Geräusch oder das ist ja ein Imitat

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So ein schnappendes Geräusch, wie von einem Fallbeil für Kinderzehen. Niemand horcht auf, die Sorge um die Unversehrtheit der Zukunft berührt hier nicht. Funktionskleidung in gedeckten Farben. Dicht bis 7000 Irgendwas Wassersäule. Das hätte Lot brauchen können. Oder war das Lots Frau? Nein. Nur ein hagerer Mann in buntem Neopren betritt energischen Schrittes das Bahnhofslokal mit der automatischen Glastür. Die macht so ein leise schnappendes Geräusch, wie ein Fallbeilspiel für Kinder. „Vererhrte Funktionskleidungsfunktionärinnen und Funktionskleidungsfunktionäre! Willkommen bei unserer kostenlosen Wassersäulengymnastik. Ein Serviceangebot von Standard & Poor, der Ratingagentur der Herzen. Mein Name ist Hubsi, und wir beginnen heute mit der…

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Ehrenamt Europa

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Ein Gespenst geht um in Europa. Das habe ich in der Zeitung gelesen. Am Zeitungskasten, genauer gesagt. Ich bin empfindsam gegen das Leid der Welt. Von einer ganzen Zeitung bekomme ich Sodbrennen. Allerdings, vom Gespenst wusste ich schon vorher. Donnerstags sucht es mich heim. Es rüttelt an meinen Zähnen und heult. „Kapital! Kapitaaaahaaahaaal! Hast du schon welches? Hast du, hast du, hast du, hast duhuhuhuuu welches?“ Dann piekt es mich mit knöchernen Fingern in den Bauch. „Sag, sag, sag, sag, sahahahaaag, hast du genug Kaaahaaahaapihiiihiiitaaahaahahaaal?“ Es springt auf meinen Rücken und zaust mir das Haar. „Man kann nie, nie, nie,…

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Bartuneks Scheu vor der Leere

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Kurz vor dem Morgengrauen erwacht Bartunek von seinem eigenen Ringen nach Atem. Schnell wie eine Fledermaus entweicht das Wesentliche aus ihm, umschwirrt noch ein, zwei Mal die Schlafzimmerleuchte, bevor es sich flach in eine der oberen Ecken des Raumes drückt. Wenig später drängt sich Bartunek zwischen den aufgerissenen Türen in den überfüllten Bauch der Bahn. Er bahnt sich seinen Weg, hinter einer Frau mit glatt zurückgebundenem Haar kommt er zum Stehen. Er atmet ihr ein Loch in den Nacken. Dazu braucht er nicht länger als eine Station. Ein Schwarm winziger Spatzen kommt aus dem Löchlein geflogen und hinterdrein hallen die…

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Der entmenschte Doktor Quarz und die anmutige Zanona

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Eine Nebelkrähe und eine Saatkrähe vermag ich am Geräusch ihres Flügelschlags zu unterscheiden. Als ich vierzehn Jahre alt war, schickte mich mein Vater bei einem Taugenichts in die Lehre. Sieben Jahre blieb ich bei ihm, einem älteren Herrn mit nervösem Tick am linken Auge. Ich litt unter Heimweh und seinem Gejammer über den Niedergang und die rohen Sitten. Jeden zweiten Montag schickte er mich auf den Markt im nahegelegen Städtchen zum Herumlungern. Ich langweilte mich schnell unter den vielen Menschen. So schlich ich mich oft davon, in ein schäbiges Viertel mit engen Gassen, fernab vom Trubel des Marktplatzes. Dort begegnete…

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Ballsaison

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Der Ballsaal füllt sich langsam zu beiden Seiten. In der Mitte wird noch Platz gelassen, denn vor dem Eröffnungstanz darf die Saalmitte nicht betreten werden. Nur Geraune ist zu hören, man will sich nicht zu früh hervortun. Die Logen zum Bersten gefüllt, wie von Maden befallene Austern. Brillanten und Kronleuchter klackern, Schweißperlen sammeln sich Achselhöhlen und bereiten Gestank vor. Hälse werden gereckt, voller Gier nach Häppchen und Spezereien. Wie zusammengetriebene Schafe reiben sich die Gäste im Foyer aneinander. Ungeduld wabert durch die Räume. Die Stimmung kann jederzeit kippen. Da spielt das Orchester einen Klimbim. Stille. Der Hufrat betritt klappernden Schrittes…

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Der Überfall

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Ich war wild entschlossen, für immer auf dem Linoleumboden in meiner Diele sitzen zu bleiben. Den Rücken bequem an den Filzbelag der Wohnungstür gelehnt. Den Luftzug, der unter der Türritze hindurchwehte, ganz sacht durch meinen flauschigen Bademantel am Hintern spüren. Einmal die Woche den Zehnliter-Kanister mit Wasser aus der Leitung füllen und ihn dann im Laufe der Tage mit einem langen, neonblauen Partystrohhalm austrinken. Was das Pinkeln anging, vertraute ich auf die Saugkraft meines hochwertigen Fußabstreifers. Mein Ziel war, ganz mager zu werden und schließlich in den Frotteeschlaufen des Mantels zu verschwinden. Das behäbige Treiben der Staubmäuse würde mir ausreichend…

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Das Kind

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Im Gegensatz zu den Frauen aus Rundfunk und Fernsehen, bekam ich das Kind nicht unter Schmerzen, wie der Herr es angeordnet hat. Es saß eines Morgens am Küchentisch, als sei es aus einem Werbefilm für arisches Dauerbrot geflohen. Einzig der bis zum zweiten Gelenk ins Nasenloch gebohrte Zeigefinger verlieh ihm etwas Menschliches. Dass ich nichts mit dem Jungen anzufangen wusste, ist meiner Egozentrik und Introvertiertheit geschuldet. Achselzuckend meldete ich ihn an einer gewöhnlichen Schule an. Er steckte voller Klugheit und Neugier, was ihm dort nicht auszutreiben war. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an ihn und er übergoss mich mit…

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Die Feige

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Die Nacht ist mir auf den Kopf gefallen. Mit einem Schlag dunkelt es. Davor fürchte ich mich nicht. Es gibt immer einen guten Grund ein Feigling zu sein. Einmal hatte ich Wichtigeres zu tun. Ein ander Mal machte ich mir Sorgen um meinen guten Ruf. Oder war es ein behagliches Leben? Wenn er mich gebeten hätte. ‚Sei kein Feigling, bitte!‘ Von hier oben sieht das Städtchen ganz freundlich aus. Die Hügel am Horizont, davor eine Ebene – ich würde gerne sagen, es sei eine Steppe. Ich schätze Übersichtlichkeit. Deshalb gefällt es mir gut, dieses Haus mit dem Türmchen, am Hang eines Weinbergs. Die Straße zum…

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