Bescherung

Marianne Pelzfuß zählt die Zeit bis zur Bescherung in eigenen Einheiten. Immer, wenn sie daran denkt, ist eine Präambel vergangen. Wieviele Präambeln sie noch abwarten muss, ist eine Überraschung. Marianne Pelzfuß versucht seit Jahren, sich die Reihenfolge der Dinge einzuprägen, aber sie bringt immer alles durcheinander. Die Bescherung. Nur einmal im Jahr freut man sich darauf, ansonsten gilt es, sie zu vermeiden. Der Sohn Gottes wird geboren und ein paar Monate später ist er bereits 33 Jahre alt und wird umgebracht. Er sollte als Säugling schon umgebracht werden, aber das klappte nicht, weil Heuchel und Meuchel, die beiden Raben, das Kreidezeichen von der Haustür abgewischt haben. So war das doch, oder etwa nicht? Marianne Pelzfuß rutscht unbehaglich auf der hölzernen Kirchenbank hin und her. Zwei Präambeln schon.
Aufstehen, hinsetzen, singen, hinknien, magische Zeichen machen – sie kann sich die Reihenfolge einfach nicht merken. Kommt die Purgatioriumssuppe vor oder nach der knusprigen Panade, von der das Fleisch umhüllt ist? Zuerst die Parade, alle nach vorn, in Reih und Glied, um die Unterseite eines Lebkuchens zu bekommen, das ist das Fleisch, aus dem der Heiland gemacht ist. Ein Kind aus Esspapier. Marianne hat Mitleid mit dem kleinen Gott, denn bestimmt wurde er gehänselt von den anderen Kindern, deren Knochen von richtigem Speck, richtiger Haut und richtigem Haar umhüllt waren. Drei Präambeln.
Irgendwann darf man zuckrige Ringe vom Baum essen und muss sich darüber freuen, mit leuchtenden Augen, obwohl die Fasern der Wollfäden, mit denen das Zuckerzeug an den Zweigen befestigt ist, einem zwischen den Zähnen kleben bleiben oder im Hals kratzen. Die gleichen Wollfäden, aus denen die Strickjacke gemacht ist, die in blaues Papier gewickelt unter dem Baum liegt, für die man artig Danke sagen muss, obwohl man sich ein Repetiergewehr gewünscht hat. Vier Präambeln.
Doch was kommt zuerst? Was danach und danach und danach? Marianne Pelzfuß versucht seit Jahren, sich die Reihenfolge der Dinge einzuprägen, aber sie bringt immer alles durcheinander. Denn in ihrem Kopf wohnt ein glitschiges Gehirn und die Gedanken rutschen dahin wie Kinder auf einer Eisbahn, nur nicht so lustig.