Kurzgeschichten

Der Atzmann

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Als Dorothea Pelzfuß lange genug alleine geblieben war, um eine Routine dafür entwickelt zu haben, zerstörte sie diese und fuhr in die Stadt. Auf dem Weg dorthin traf sie den Atzmann. Er trug einen Wollmantel und zog ein Rollköfferchen hinter sich her. Das Klackern der Räder übertönte die Alltagsgeräusche. An einer Straßenecke sprach er sie an. Dorothea redete nicht gern mit Fremden, doch der Atzmann kam ihr bekannt vor. „Was haben Sie denn in Ihrem Koffer?“, fragte sie ihn, nachdem er sich vorgestellt hatte. „Den Neid, die Missgunst und einen Wunsch. Möchtest du etwas davon? Es soll dich nicht viel…

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Idee für den Entwurf eines vorläufigen Konzepts für ein Theaterstück von epischer Länge (1984)

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Es geht irgendwie um Macht, zwei Frauen legen sich, Rotwein trinkend, Patiencen oder gegenseitig Tarotkarten. Es ist dringend und zwingend, dass wirklich Rotwein getrunken und der Verfall des Sprachvermögens unter Alkoholeinfluss dem geneigten Publikum Abend für Abend vor Augen geführt wird. Anfänglich unterhalten sie sich über vergangene Liebschaften. Eine der Frauen ist Physikerin und sie verwendet ausschließlich Metaphern aus der Wissenschaft. Die andere Frau betrügt beim Kartenlegen. Sie besprechen die Karten (Gelegenheit für betrunkene Gesprächsimprovisation zu beliebigen, mystisch klingenden Themen). Später kommt ein Gerichtsdiener auf die Bühne; er spricht juristisch, was jedoch beide Frauen nicht verstehen. Sie verspotten ihn als…

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Die Flucht nach Sonstwohin

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Durchs Treppenhaus heult Höllenwind, Nachbarn verriegeln Türen; anderthalb Momente später sitzt du auf den Stufen, betrachtest durch die Milchglasfenster das Herabfallen der vorletzten Blätter und hältst meinen Brief in den Händen: „Wenn du das hier liest, bin ich schon in meinem Ruderboot auf Weltumrundungsreise. Längengrad um Längengrad komme ich voran und Tage, viele Tage liegen hinter mir. Ich trüge keine Liebe in mir, sagtest du zum Abschied und ich hatte keinen Grund, an deinen Worten zu zweifeln. Dann pfiffst du dir und mir ein Liedchen und die Melodie verhakte sich in meinen Erinnerungen. ‚Wohlan!‘, begrüßen mich Delfine und verziehen die…

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Der Richter

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Der Brief ist nicht unterschrieben. An seinem Ende ist ein schiefer Stempel angebracht: „Amtsgerichtsrat W. Schill“. Nächsten Donnerstag um 9 habe ich mich im Justizgebäude einzufinden, um Angaben in einer unschönen Sache zu machen. Nichts Besonderes, nur eine Petitesse. Trotzdem raubt es mir den Schlaf. Ich erinnere mich nicht gern an Schill. Seinen Vornamen weiß ich nicht mehr, wir riefen ihn nur Schill. Im Grunde war er nicht viel anders als wir alle, nur ein klein wenig. Die Ohren standen weit vom Kopf ab, und er bekam den Mund nie ganz zu, so dass seine etwas zu großen Zähne stets…

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Macht der Gewohnheit

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Kardinal Gänswein kann nicht schlafen, Kardinal Gänswein schaut fern: Ein Mann geht durch die Wohnung. Er betätigt den Lichtschalter. Der Raum – es ist die Küche – bleibt dunkel. „Nun bin ich schon seit 27 Jahren blind und mache noch immer das Licht an, wenn ich ein Zimmer betrete.“ Er lächelt an der Kamera vorbei. Schnitt. Innenaufnahme der geschmackvoll beleuchteten Nachbarwohnung. Eine Frau in mittleren Jahren sitzt auf der Couch und legt das Strickzeug zur Seite. „Ich habe ihm“, sagt sie, „schon vor Jahren alle Glühbirnen gegen Plastikobst ausgetauscht. Und er denkt immer noch, es würde hell, wenn er den…

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Das Neurodiversum

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„Am wütendsten bekämpfen diejenigen die Barbarei, die über die eigene nur ein dünnes Mäntelchen gezogen haben.“ Der Satz trifft Amigdala Pelzfuß unvorbereitet. Am Nebentisch sitzt ein Pärchen, dessen Mündern Blasen entweichen, die einen halben Meter über den Köpfen der beiden einen wilden Tanz aufführen. Seine gleichen dicken bunten Hummeln. Die der Frau klackern wie Glitzerperlen. Stoßen die Blasen zusammen, gibt das ein Geräusch, als ließe man ein frisch gewaschenes Baby in einen Topf mit Vanillesoße plumpsen. Amigdala möchte sich strecken und eine von ihnen fangen und kosten, doch das scheint ihr unschicklich. Sie hat noch nie jemanden etwas Derartiges tun…

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Nostalgia

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Jeden Tag eine Meile Bockspringen, jede Stunde einen Einlauf. Jeden Sonntag einen Bohneneintopf, jeden Sommer ein Glas Kirschen. Kirschen bringen Glück, so sagte man schon im Alten Japan, so sagt man heute noch in Kamerun; im Griechenland der Antike kannte man noch keine Kirschen. Dort färbte man Oliven rot und hängte sie in die Bäume. Die alten Griechen sind mittlerweile tot. Und all ihre Feinde auch. Geblieben sind die Oliven an den Zweigen. Die leuchten im Mondschein den Fischern den Weg zum sicheren Hafen, sind Unterpfand der dortigen Wirtschaft und noch immer Leitmotiv für manch jungen Wandersmann. Eines beschäftigt mich…

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Sieben Jäger zu Fuß

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An einem Morgen wie tausend anderen erwacht einer der schwarzen Jäger vom tiefen Brummen einer Hummel neben seinem Ohr. Abends zuvor hatte er noch geglaubt, ein Katarrh schliche sich in seinen Rachen, doch jetzt spürt er den Schmerz des Zeitalters in den Knochen. Keine der Arzneien aus seinem Rucksack wird dagegen helfen, und so steckt er sich eine ramponierte Zigarette an, das einzig wirksame Mittel gegen solche Leiden. Er schließt die Augen, umklammert seinen leeren Becher und träumt ihn sich gefüllt mit schwarzem bitter-süßen Gebräu. Es dauert nicht lange und seine Gefährten erwachen vom Duft seiner Vorstellung. Sie scharen sich…

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Alarm in Distrikt 7

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Ein Kleiner und ein unglaublich Fetter sitzen beieinander. Der Kleine lässt die Beine baumeln. Der Fette hält sich an seinen Krücken fest. „Alarm! Alarm! Das ist kein Test, ich wiederhole: Das ist kein Test! Alle Mann hin, wo nie zuvor ein Mensch gewesen! Frauen und Kinder zuerst!“ Der Kleine gluckst vergnügt, wen wundert’s – der Fette hat die Durchsage nicht gehört: Schichten Fleisch bedecken ihm die Ohren. Die beiden werden angebettelt, sie haben nichts zu geben und schütteln die Köpfe. Das Fett schwappt links, das Fett schwappt rechts, dem Kleinen ins Gesicht. „Letzter Aufruf: Verlassen Sie umgehend das Gebäude! Der…

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Zubrots ungehörtes Schicksal

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Die Abendsonne wirft ihr vom Tag lahm gewordenes Licht auf die Stadt. Der Sommer ist vorüber, aber die Menschen weigern sich, den Herbst willkommen zu heißen und werden mit Schnupfen und kalten Füßen dafür gestraft. In einer der letzten Sonnenpfützen sitzt ein Unglücksrabe und wartet mit vor Scham geschwollenen Füßen auf Almosen. Als ich mich zu ihm hinab beuge und Kleingeld auf seine Decke lege, flüstert er mir zu: „Das kann jedem passieren. Irgendeinen Unfug macht jeder einmal. Glauben Sie mir!“ Er greift nach meiner Hand, aber ich wende mich ab und eile davon. Deshalb höre ich seine Geschichte nicht….

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