Kurzgeschichten

Kein Attentat

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Mir gegenüber sitzt ein nervöser junger Mann. Ein dauerndes Wippen mit dem Fuß lässt den Pelz seiner Kapuze erzittern. So wirkt er wie ein Wildtier, das im Wald Witterung aufnimmt. Hätte er bewegliche Ohren, wären sie auf eine Gefahr in der Ferne gerichtet. Ich würde es auch riechen können, käme nicht von etwas weiter hinten eine Wolke Rasierwasserduft geflogen, die einen undurchdringlichen Belag in meiner Nase bildet. Hinter seiner Anspannung und den wie Billardkugeln umherschießenden Augen schläft eine Müdigkeit, wie sie sich nur entwickeln kann, wenn einer jahrelang zu wenig schläft. „Leg dich hin! Ruh‘ dich ein wenig aus!“, möchte…

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Santa Cassilda

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In der Mitte meines Zimmers hat sich ein Loch aufgetan – ein Loch, bestimmt 20 Meter tief. Aus ihm dringen Gefahr verheißende Geräusche, gestern Abend hörte ich eine Frau weinen. Ich rief in das Loch und bot meine Hilfe an, doch die Frau ließ sich durch meine Worte nicht beruhigen. Vielleicht hat sie mich auch nicht verstanden, was mich nicht wundern würde, denn um sie herum wurde geschrien, geschossen, gehupt, geknallt und gehämmert. Die Frau hat möglicherweise Hunger, urteilte ich und eilte in die Küche. Irgendwo war doch bestimmt noch etwas Essbares. In einer Ecke des Kühlschranks fand sich eine…

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Die Erbschaft

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Von meinem Vater habe ich einen Lustschutzbunker geerbt. Das klingt drolliger als es ist. Er starb mit Schaum vor dem Mund, was zu ihm nicht passte, zu den Umständen hingegen schon. Zeitlebens war ihm der Geifer fremd geblieben. Genützt hat es ihm nichts – obwohl – wie könnte ich beurteilen, woraus die Toten Nutzen ziehen? Sei es drum, der Bunker bietet mir Schutz vor ungünstiger Witterung, Bitternis und den Anwürfen der Menschheit. Hat die nichts Wichtigeres zu tun, als mir Gemeinheiten anzutun? Ich nehme das Allgemeine persönlich, so einfach ist das. Der Bunker zeigt mir durch eine Glasscheibe einen kleinen…

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Étude

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Ich vermute, und es ist nur eine ganz unwissenschaftliche Ahnung, die ich manchmal in einsamen Stunden für mich hege, dass meine Vorgesetzte eine Schwäche für mich hat und pflegt. Sagen wir doch, wie es sich mir darstellt: Sie himmelt mich an. Wenn ich, über mein Mikroskop gebeugt, meiner Arbeit nachgehe und ihren Atem in meinem Nacken spüre, pimmelt es in meiner Hose. Das ist meist ein deutlicher und beweiskräftiger Indikator. Sie lässt mich gerne länger arbeiten. Die Wissenschaft verlangt Opfer, sagt sie mit Blick auf die Ausbeulung unter meinem knappen Kittel. Unter der Linse meines Mikroskops wimmelt es: Pantoffel- und…

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Gewissen

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Durch den verschneiten Wald läuft ein Rehlein. Es ist noch klein, mit weißen Tupfen auf dem Rücken. Aber nicht mehr so klein, dass es nicht zurecht käme. Es weicht den Schneeflocken aus. Das Rehlein ist auf der Suche nach einem Gefährten. Es wünscht sich einen Dachs. Ein grummelnder Dachs mit schlechter Laune und tiefen Gedanken soll es sein. Bald findet es einen Bau und klopft mit dem Paarhuf an einen Ast. Der Dachs guckt durch den Türspion. Rehe mag er nicht. Da es aber schon spät ist und bald die Jägerin auftauchen wird, öffnet er und lässt das Rehlein ein….

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Studie über Kurzschlüsse & Kernschüsse der Seele oder: Das Wandellose Licht wob einen Schleier

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Prolog: Sagt er zu ihr: „Iss mal sinnlich ’ne Tomate!“ „Wie ist es denn so?“, fragt sie ihn und lächelt verführerisch. „Jeden Tag ein bisschen besser. Jeden Tag ein bisschen mehr.“ Sprachkörper 1: Das Weben hat seine Aktualität in dem Gewebten Stereotyp die Antwort, stereotyp das Gefühl. Erst einmal neue Rituale schaffen; Automatismen müssen greifen. Und dann wieder Zeiten – manchmal Minuten, manchmal Stunden – in denen sich das Innere Ich in seine Einzelstimmen zerfasert. Wohlmeinende, hofft man inständig, denn sie sind einem doch recht nahe. Sie zu verlachen würde nicht helfen, wäre wohl als Zeichen an die Außenwelt, als…

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Zahlen

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Frieda Pelzfuß mag Zahlen. Zweihundertundacht zum Beispiel. Man kann sie mit Ziffern hinschreiben oder mit Buchstaben. Je nachdem wohnt eine unterschiedliche Logik in ihnen; oder, besser gesagt, die Logiken wohnen gemeinsam darin und schauen je nachdem zum Fenster heraus. An und für sich ist Frau Pelzfuß keine Freundin der Logik. Sie schätzt das Zwingende nicht. Wer wird schon gerne gezwungen? Manche, ja, die richten sich das so ein, dass sie den lieben langen Tag nicht überlegen müssen, was als nächstes zu tun ist, weil ein Zwang auf den anderen folgt. Das hat auch etwas für sich, erspart es einem doch…

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Der Zöllner

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Am alten Zollhaus traf Herr Domino den Zöllner. Der hatte den ganzen Tag Beutel geschnitten und die Hand aufgehalten – der Zöllner war müde, das sah Domino auf Anhieb. „Ach, man wird nicht jünger!“, sagte der Zöllner in einem Anflug von Sentimentalität. „In den guten, längst vergangenen Tagen konnte ich die Beträge und Einnahmen im Kopf ausrechnen, stundenweise, tageweise – ja, ich hatte sogar die Summen der Wochen im Kopf. Heutzutage, wenn auch nicht erst neuerdings, bin ich auf ihn hier angewiesen.“ Er zeigte auf ein zerrupftes Wesen, dem Augenschein nach ein Nagetier. Domino sah, dass es in keinem guten…

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Altweibersommer

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Frieda Pelzfuß denkt nicht gern an ihre Schulzeit zurück. Gewiss, nicht alles war schlecht gewesen. Anderswo und anderswann hatte es Menschen schlimmer getroffen und es gab keine Landminen auf den Gängen. Mit etwas Sinn für Verhältnismäßigkeit hätte Frieda in zuckrigen Erinnerungen schwelgen können. Leider fiel ihr immer als erstes der schwitzende Kaplan ein, der einem in den Nacken atmete und ganz aufgeregt wurde, wenn er einem das Ohr verdrehte. Und die Direktorin, wie sie morgens am Treppenabsatz den Zuspätkommenden auflauerte. Wenn sie einen an den Haaren gepackt hielt und schüttelte, klingelten die vielen dünnen Goldreifen an ihrem Handgelenk wie Schlittenglöckchen…

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Endzeit

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An einem anderen Tag – das Wetter war dem heutigen nicht unähnlich – saß ein Vogel auf der Spitze meiner Fahnenstange und schaute mich vorwurfsvoll an. Was habe ich denn jetzt schon wieder verbrochen, dachte ich, warum hassen mich bloß alle Geschöpfe unter Gottes weiten Himmeln? Der Vogel wendete seinen Blick nicht von mir ab, mir wurde kalt und warm. Das ist bei dieser wechselhaften Wetterlage immer ein Problem: In der einen Sekunde brennt die Sonne heiß, dass man sich das Federkleid vom Leib reißen möchte, in der nächsten hagelt es kindskopfgroße Körner und keine Fahne der Welt ist groß…

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