Es ist nun schon so lange her, aber ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre, dass wir Jungs im Kreis um ein selbstgemachtes Lagerfeuer saßen und Zigaretten aus Zeitungspapier und zerbröseltem, trockenem Laub rauchten.
In unserer Bande herrschten der Eber und der Papst. Das Wort des Papstes war Gesetz, und wenn er sagte, wir rauchen, dann rauchten wir. Der Eber hieß eigentlich Volker Ebert, aber das habe ich erst Jahre später herausgefunden, als sein Bild von der einzigen Litfaßsäule im Ort herabblickte und für seine Körperarbeitskurse warb.
Dass der Papst in Wirklichkeit Stephan Winkler hieß, erfuhr ich auf seiner Beerdigung und habe es mir auf dem Grabstein bestimmt 200 Mal vorgelesen: „STEPHAN WINKLER. 1968-1980. Ein kleiner Stern leuchtet jetzt im Himmel, so hell wie dein Lachen in unseren Herzen blieb.“
Für mich wird er immer der Papst bleiben, sein Wort war Gesetz und wenn einer von uns Kleineren mal muckte, Widerworte gab, nicht bei Frau Biermann im Lädchen Bonbons oder Lutscher klauen wollte, gab der Papst dem Eber ein Zeichen, worauf dieser den Schuldigen dann in den Mäuserich nahm. So bezeichneten sie die sehr schmerzhafte Handlung, bei welcher der Eber den Hals des aufmüpfigen Jungen in die Ellenbeuge klemmte und dem nun Wehrlosen die Haare herausriss und den Schädel mit den Fingerknöcheln bearbeitete.
Warum sie diese Strafaktion Mäuserich nannten, weiß ich nicht, und damals war ich viel zu vorsichtig, um nachzufragen.
Irgendwann hatte der Eber eine Perle, Sabine Kasperski, und die hütete er wie einen Schatz. Sabine war schon dreizehneinhalb und ein bisschen langsam im Denken, was aber nicht auffiel oder störte, da sie kaum was sagte. Sabine saß am Lagerfeuer zwischen dem Eber und dem Papst und wir Kleineren starrten sie mit weitaufgerissenen Augen an. Sie war das schönste Mädchen, das ich jemals gesehen hatte und sie trug sogar Lippenstift.
An diesem einen Nachmittag hatte einer von uns Klebstoff und eine Plastiktüte mitgebracht. Die Tüte kreiste bereits zum zweiten Mal um unser Feuerchen, als dem Eber plötzlich schwarz vor Augen wurde und er mühsam aufstand, um hinter die Ligusterhecke zu verschwinden, wo wir gewöhnlich pinkelten oder kotzten.
Während wir Jungs berauscht vor uns hin stierten, räusperte sich der Papst unüberhörbar, um die Aufmerksamkeit der anderen zu erlangen. „Sabine, zeig den Pömpskes mal, wie eine Frau aussieht!“
Dabei zwinkerte er uns mutwillig zu. Sein Wort war Gesetz, Sabine knöpfte ihre Bluse auf. Ich konnte vor Aufregung und Klebstoff nicht mal mehr schlucken und es wurde mucksmäuschenstill. Doch gerade als es wirklich spannend wurde, und ich glaubte, die himbeerfarbenen Spitzen ihrer Brüste erahnen zu können, brach der sichtlich ernüchterte Eber durch das Gebüsch zurück in die Runde.
Seine Perle bedeckte sich sofort und endlich konnte ich wieder schlucken. Der Spucke schmeckte ranzig und bitter, mir hämmerte das Blut hinter den Augen. Verschwommen sah ich, dass sich der Eber zurück auf seinen Platz begab, wobei er vermied, die Kasperski zu berühren. Der Papst feixte überlegen. Unsere Bezugslaterne ging an, das Signal, dass wir nach Hause mussten. Zwei Tage später fand man den Papst, kopfüber in einer Kohlenhalde steckend, schon kalt.
Der Eber und seine Perle verschwanden aus meinem Blickfeld. Unsere Clique löste sich nach der Bestattung auf; ein paar von uns kamen manchmal wie zufällig an unseren alten Wirkungsstätten vorbei und wenn wir uns begegneten, begrüßten wir einander ohne echte Herzlichkeit. Später erzählte mir jemand bei einer dieser Begegnungen, dass Sabine auf die schiefe Bahn geraten sei und man nichts mehr von ihr gehört hätte, seit sie nach Frankfurt gezogen wäre, um dort privat Tanz zu studieren. Das ist nun alles schon so lange her und mir doch noch so nah. Kinder, wie die Zeit vergeht!