Sind wir in den letzten Stunden, die mir Jahre waren, Achterbahn gefahren: Ich liege wie tot, kann mich nicht bewegen, kann die Augen nicht öffnen. Ich weiß nicht, wie es dem Jungen geht, weiß nicht, ob Viktor noch lebt, ich weiß nicht, ob ich den Morgen sehen werde. Erst bin ich gefallen, ungebremst ins Unbegrenzt, ins Bodenlose. Der Junge hat geschrien, Viktor geweint. Ich habe geglaubt, ich habe gemeint, die Welt geht unter und wir mit ihr.
Als wir die Pflanze an ihren Blättern aus dem Eimer ziehen wollten, brüllte sie, dass wir erschrocken innehielten. Es war der Junge, der den Einfall hatte, das Gesträuch mit Hilfe des Hundes aus dem Plastikeimer zu bekommen. Wir banden den Schwanz des Hundes mit einer dünnen Schnur an die Blätter und ihre winzigen Stängel. Draußen schlug die Kirchturmuhr elf Mal. Ich ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken, Viktor folgte mir, um sich, trotz eines nicht unerheblichen Rausches, Wodka nachzuschütten und der Junge, dessen temporärer Name noch eine Stunde ‚Schwarzweißʻ lautete, suchte im Kühlschrank nach etwas Essbarem. Bevor der Junge bei mir einzog, hatte ich keine Vorstellung davon, wie oft Kinder hungrig und durstig sind oder sonst irgendein Bedürfnis haben. Da kam der Hund des Jungen zu uns gelaufen. An seinem Schwanz, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, hing der Alraun.
Ich konnte es kaum fassen. Da hatte ich mir jahrelang gewünscht, einen Alraun zu besitzen und nun zog der Hund meinen Traum, die Wurzel meiner Sehnsucht, die Majestät unter den Wurzeln, durch die Wohnung. Ganz sachte löste ich den Alraun aus der Schlinge und hielt ihn in die Höhe wie einen Pokal. Wenn mich nur mein Großvater so sehen könnte, dachte ich, und unter mein sprudelndes Glück mischte sich ein Tropfen Wehmut. Viktor lallte etwas, das wie Anerkennung klang, die Augen von Schwarzweiß leuchteten und er wollte die nackte Wurzel anfassen und streicheln. Ich schüttelte den Zeigefinger und der Junge verstand.
„Wisst ihr, was das bedeutet?“, fragte ich mit heiserer Stimme. Weil sie zwar lächelten, aber nichts erwiderten, antwortete ich selbst: „Einen Alraun zu besitzen bedeutet, dass alles möglich ist. Mein Leben wird sich komplett verändern, wenn ich das möchte.“
Noch war der Alraun ganz verschmutzt, ich nahm eine kleine Schüssel aus dem Schrank, schüttete einen Dreiviertelliter Milch hinein und wusch ihn ganz vorsichtig. Es schien, als würde er mich dabei anlächeln. Kaum war er gesäubert, nahm ich ihn aus dem Schüsselchen und tupfte ihn mit einem Küchentuch trocken. Dann stutzte ich ihm mit einer Schere die Blätter auf seinem Kopf, was er fröhlich glucksend mit sich geschehen ließ. Dann betrachtete ich ihn noch einmal lange und zärtlich. Er war wunderschön.
Viktor hingegen interessierte sich mehr für die Blätter. Er roch an ihnen, verzog das Gesicht, zupfte sie klein und stopfte sie in die Pfeife aus poliertem Kirschholz. Ich legte den Alraun behutsam auf mein Kissen und deckte ihn mit einem Seidentaschentuch zu. Dann ging ich, um ihn nicht zu stören, auf Zehenspitzen zurück in die Küche, wo Schwarzweiß und Viktor am Tisch saßen und auf mich warteten. Viktor reichte mir die Pfeife und der Junge zündete sie mit einem Streichholz an. Die Wirkung trat unmittelbar ein. Ich dachte noch, so muss sich Schlachtvieh fühlen, wenn der Bolzen angesetzt wird, dann dachte ich nichts mehr. Irgendjemand zog meine Beine nach vorne und ich fiel.