Der Geruch von Leder

Hier stinkt es. Man sagt das so dahin. Wie man eben auch sagt: Wir gehen nach Norden. Oder: Es gibt Erbsensuppe. Und dann erwartet man, die Leute müssten einen verstehen. Doch Gerüche sind heikel. Je nach Person kann betörendes Aroma fauliger Mief sein.

Der Geruch von Leder entführt Paula Pelzfuß in ihre Kindheit, geradewegs in die indianische Phase ihres Vaters. Im Wohnzimmer lagen Elchhäute so hoch aufgestapelt, dass Paula Pelzfuß nicht darüber hinwegsehen konnte. Der Vater saß im Schneidersitz auf einem kleinen Teppich, pfiff ein fröhliches Liedchen und nähte mit einer Knochennadel neue Garderobe für die ganze Familie. Als Faden benutzte er getrocknete Hirschsehnen. Während der indianischen Phase spielten sich im Hause Pelzfuß keine melodramatischen Szenen ab. Nach dem Abendbrot rauchte man ein Friedenspfeifchen und anschließend gab es fast immer was zu lachen.

Auch Paulas Nachbarin im zweiten Stock wird durch den Geruch von Leder in ihre Kindheit zurückgeschleudert. Doch statt fröhlicher Liedchen hört sie das Pfeifen des Gürtels, spürt die Striemen auf ihrem Rücken und den kratzigen Klumpen Angst, der in ihrem Bauch herumspringt, wenn ihre Eltern die Schultasche öffneten, um ihre Hefte zu kontrollieren.

Der Geruch von Leder erinnert Herrn Bratschweiß aus dem Parterre an den grün-weißen Motorradanzug, den er getragen hatte, als ihn die Zentrifugal- oder Zentripetalkraft – er wusste nie, welche von beiden für das Malheur verantwortlich war – gegen eine Leitplanke prallen ließ. Er spürt die kratzige Kälte des Stahls, der sich durch seinen Bauch bohrt.

Elvira Pantazzi, einer ehemaligen Primaballerina, rutscht beim Geruch von Leder ein heißer, süßlicher Klumpen vom Bauch in die Hose. Der Klumpen ist aus Riemen und Gerten, Striemen und Schweiß und Zungenkussgeschmack gemacht. Sie beißt sich auf die Unterlippe und haucht „Francesco!“ in das eingebildete Ohr ihres ersten Ehemanns.

Sie sehen, die Nase ist ein tückisches Organ.