Der Brief ist nicht unterschrieben. An seinem Ende ist ein schiefer Stempel angebracht: „Amtsgerichtsrat W. Schill“. Nächsten Donnerstag um 9 habe ich mich im Justizgebäude einzufinden, um Angaben in einer unschönen Sache zu machen. Nichts Besonderes, nur eine Petitesse. Trotzdem raubt es mir den Schlaf.
Ich erinnere mich nicht gern an Schill. Seinen Vornamen weiß ich nicht mehr, wir riefen ihn nur Schill. Im Grunde war er nicht viel anders als wir alle, nur ein klein wenig. Die Ohren standen weit vom Kopf ab, und er bekam den Mund nie ganz zu, so dass seine etwas zu großen Zähne stets zu sehen waren. Die Arme standen dünn und staksig vom Körper ab. Als Zeichen seiner Aufregung streckte er mehrmals hintereinander den linken Arm sehr schnell durch, was von einem Knacken im Gelenk begleitet wurde. Unsere Schikanen ließen ihn mit der Zeit schüchtern werden. Das Merkwürdigste an Schill war, dass er sich niemals beklagte. Weder versteckte oder wehrte er sich je, noch sah man ihn eine Träne vergießen. Stumm nahm er jede Demütigung entgegen, wie ein Kartenabreißer im Theater die Billetts. Der schnalzende linke Arm war das einzige Zeugnis seiner Qual. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht, denn nach dem Schulwechsel habe ich ihn nicht wieder gesehen.
Später wäre ich gerne ein Kind gewesen, das sich nicht an den Hänseleien beteiligt hat und dessen Herz offen für die Sonderlinge war. Schill war das Schandmal auf meinem ansonsten tadellosen Charakter. Kein Ehrenamt, kein Einsatz für die Ärmsten, keine Spende vermochten die Erinnerung an die Abwesenheit meines Mitgefühls aufzuwiegen. Man leidet noch lange an der eigenen Gemeinheit.