Der Schwur

Irgendwann erreicht man das Eierliköralter. Daran führt außer dem frühen Tod kein Weg vorbei. Eben stand man noch in einem muffigen Club am Rand der Tanzfläche und wackelte mit den Hüften, in der Hand ein Glas Buntes oder eine Flasche Bier, da findet man sich – ohne denkwürdigen Abschied – abends auf dem Sofa und schlürft das gelblich-zähe Zeug aus einem Schokoladenbecher zum Fernsehkrimi. Auch Isabella Pelzfuß erging es nicht anders, nur dass ihre Füße auch noch in dicken, zu Tigertatzen geformten Plüschpantoffeln steckten. „Warum auch nicht?“, rief sie aus, als ihr der Unterschied zu vergangenen Samstagabenden bewusst wurde.
„Weil du dir einst geschworen hast, niemals allein an einem Samstagabend in Tigerpantoffeln vor dem Fernseher Eierlikör zu trinken“, antwortete der Geist der vergangenen Jugend aus dem Wäschepuff im Badezimmer, wo sie ihn eingesperrt hatte, um seine Bemerkungen nicht mehr hören zu müssen. Ohne Erfolg, denn die schmutzigen Socken dämpften seine Stimme kaum.
„Genau, wie du dir geschworen hast, dich niemals bei den Nachbarn wegen zu lauter Musik zu beschweren oder niemals die Polizei zu rufen, solange kein Gewaltverbrechen passiert oder dich niemals unnatürlich zu verhalten, um einem Kind ein gutes Vorbild zu sein oder niemals aus Höflichkeit ein Kanapee mit Gurke zu essen oder niemals Komplimente zu machen, die nicht ehrlich gemeint sind. Jeden Schwur hast du gebrochen. Sogar den mit Klaus Kappelmann. Du bist ein wandelnder Meineid und der Beweis, dass es keine Konsequenzen gibt.“
Isabella spürt, wie sich ihre Ohren mit Scham röten. Sie lässt sich von dem unangenehmen Gefühl überwältigen und entgeht so ein paar langweiligen Szenen aus den Fernsehkrimi. Dann schüttelt sie sich, ruft trotzig „Na, wenn schon!“, füllt den leeren Schokobecher bis zum Rand und stürzt ihn in einem Zug hinunter.
„Immerhin“, sagt der Geist der verlorenen Jugend zufrieden, bevor er sich einen Kniestrumpf über den Kopf zieht und für immer schweigt.