Die Vergangenheit des Anderen

Ein quadratischer Mann steht mit hängenden Schultern vor einer Baustelle. Könnte ich sehen, was er sieht, denken, was er denkt, wüsste ich, dass er vor seinem inneren Auge am Strand vergangenen Chancen und Möglichkeiten nachtrauert. War da nicht diese junge Schönheit gewesen, die ihm, siebzehnjährig und voller Selbstzweifel, zugeblinzelt hatte? Verheißungsvoll zugeblinzelt hatte. Hätte er nicht die Gelegenheit beim dunklen Schopf ergreifen sollen, ja müssen?

„Haben Sie auch beim Bau gearbeitet?“ frage ich, doch er verbessert mich sogleich:

„Auf dem Bau. Oder auch am Bau. Aber niemals beim Bau. Der Bau ist doch kein Arbeitgeber.“ Nach einem Moment rückbesinnenden Schweigens fügt er hinzu: „Selbst ‚im Bau’ wäre annehmbar. Ich habe schon im Bau gearbeitet. Sieben Jahre lang. Als Friseur. Das war eine Vertrauensstellung. Durfte nicht jeder. Da kann man nicht reinmarschieren und sagen ‚Ich habe zwar diesen oder jenen Fehler gemacht im Leben, aber geben Sie mir trotzdem Scheren und Rasiermesser in die Hand. Nein, mein Freund, so einfach geht das nicht. Man muss sich schon gutstellen mit diversen Leuten.“

Um einem erneuten Schweigen zuvorzukommen, beeile ich mich zu fragen: „Und welche Tätigkeit haben Sie am und auf dem Bau ausgeübt? Waren Sie Polier?“ Das Wort hatte ich irgendwann mal im Zusammenhang mit Baustellen aufgeschnappt, ohne jedoch eine tatsächliche Vorstellung zu haben, was ein Polier den lieben langen Tag für Aufgaben zu erfüllen hat.

„Polier?“ Der quadratische Mann schnaubt. „Das wär’s ja gewesen. Stift war ich. Bier habe ich geholt. Vom Büdchen. Bier und Kurze.“ Er hält inne. „Und obwohl alle immer getrunken haben, wurden die Häuser schneller fertig und haben länger gehalten. Da hat man auch nicht schein-betroffen Fotos geschossen, wenn einer mal besoffen vom Dach fiel, da hat man gelacht, weitergemacht und wenn sich die Möglichkeit bot, die Witwe getröstet.“

Noch Stunden später würde ich gerne in dieser Vergangenheit leben, von der die Menschen immer so schwärmen, doch wenn ich an die hängenden Schultern des quadratischen Mannes denke, eigentlich auch wieder nicht.