Ich hasse sie. Sie hat mich immer schon gehasst. Am Anfang hat sie ganz freundlich getan und gesagt: „Frau Lenz, ich bin auf Ihrer Seite. Wenn Sie irgendwelche Fragen, Sorgen oder Probleme haben, kommen Sie einfach damit zu mir.“ Wahrscheinlich hat es sie gewurmt, dass ich nie Probleme hatte. Manchmal konnte ich nicht in die Kanzlei kommen, weil mich ihr Hass so abgestoßen hat. Ständig wollte Sie, dass ich Dinge mache, Sachen erledige, Aufgaben ausführe. Zum Glück habe ich einen verständnisvollen Hausarzt.
Ja, es stimmt, ein wenig gruselig fand ich ihn bei meinem ersten Besuch schon. Er war viel kleiner als alle anderen Menschen, die ich bisher getroffen hatte. Am meisten faszinierten mich seine riesigen Ohren. Die knorpelige Haut war so straff, dass, wenn man durch sie hindurch schaute, die Welt auf der anderen Seite ganz eigentümlich aussah. Es ist eine hoffnungsvolle, verheißende Welt, die man dann erblickt. Möglichkeiten tun sich auf, und es war auch bei einem dieser Arztbesuche, dass ich mich für eine Ausbildung in der Kanzlei entschieden habe. Beim Blick durch die Ohren wirkte mit einem Mal alles so schlüssig und so klar; jeder bisherige Tag meines Lebens schien mich auf diese Arbeit vorbereitet zu haben. Meine kampfsport-erprobten Reflexe würden mir als Anwaltsgehilfin gut zu Gesicht stehen. Allem, was das Arbeitsleben mir abverlangen könnte, wollte ich entschlossen entgegengetreten.
Wenn sie nicht wäre. Sie musste mir ja alles kaputtmachen. Ich hasse sie. Listig hat sie mir die ganze Zeit Fallen gestellt, hat bei meinem Versagen Anteilnahme geheuchelt und mich mit falschen Hinweisen in die Irre geführt. Meist reichte es, ihren Anweisungen zu folgen, um zu scheitern. Jetzt haben mich die hohen Herrschaften in der Kanzlei eingeladen, ein Gespräch mit ihnen zu führen. Das verdanke ich doch auch bestimmt nur wieder ihr. Ich habe es schon im Ohr, wie sie sagen wird: „Es ist nicht persönlich gemeint – ich habe nur Ihre Zukunft im Auge, Frau Lenz. Ich wünsche Ihnen noch alles Gute, Frau Lenz. Schreiben Sie mir doch mal eine Mail, wie es Ihnen ergangen ist.“ Aber da kann sie lange warten. Vielleicht gehe ich auch gar nicht hin. Ob ich heute wohl noch einen Termin bei Doktor Shapiro bekomme? Oh, wie ich sie hasse!