In mir schläft ein Lied. Weil ich nicht gut singe, hüte ich mich es zu wecken. Abends, vor dem Einschlafen, knirsche ich mitunter seine Melodie leise mit den Backenzähnen. Als Mädchen wurde ich dafür gescholten, egal wie leise ich auch die Zähne gegeneinander reiben mochte. Aber das ist das Los der Kleinen und allzu lange hält die Kindheit ja nicht vor; ehe man sich daran gewöhnt hat, trocknen die Tränen, bekommt man die Füße nicht mehr hinter die Ohren und das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Man beginnt, sich selbst zu schelten, auch und gerade für Kleinigkeiten.
Jeden Morgen mache ich einen Spaziergang durch die vom Tau noch feuchten Straßen und sehe mich nach jemandem mit einer schönen Singstimme um. Bisher war mir kein Erfolg beschieden. An einer Brandmauer bleibe ich stehen und warte auf die Krähe, die sich jeden Tag dort niederlässt, um ihr Gefieder zu putzen. Während ich sie beobachte, kommt ein Mann mit einer automatischen Pistole in der Hand auf mich zu. Sein schleppender Gang erinnert mich an Marianne. Marianne, die hinkend hinter mir her trampelte und ihre zu Klauen verdrehten Finger nach mir ausstreckte. Aus ihrem Mund drang grölendes Klagen und Speichel floss ihr Kinn hinab. Der Mann nähert sich und hebt die Pistole wie zum Gruß. Ich ziehe meine Kapuze tief in die Stirn, in der Hoffnung, er möge mich übersehen.
„Kein schöner Morgen, was?“, ruft er mir munter zu, als er ein paar Meter vor mir stehen bleibt.
Das stimmt gar nicht, denn der Himmel strahlt in sattem Türkis. Meine Hände fühlen sich gefesselt an, deshalb verberge ich sie in den Ärmeln meiner Jacke. Der Mann legt die Waffe auf einen Mauervorsprung und klopft suchend seine Taschen ab.
„Irgendwo muss ich noch ein Päckchen Munition einstecken haben“, murmelt er. „Ich bin in letzter Zeit etwas zerstreut.“
Er zieht eine verbeulte Thermoskanne aus der Jacke, gießt Kaffee in den Deckel und reicht ihn mir. Ich will ablehnen, aber er schüchtert mich durch eine herrische Bewegung mit dem Kinn ein. Also strecke ich die zusammengeschnürten Hände nach dem Becher aus. Die Krähe hält inne und starrt mich an. Der Mann scheint das Magazin gefunden zu haben, denn er dreht mir den Rücken zu und hantiert mit der Pistole. Als er sich mir wieder zuwendet, hebt er die Arme und legt auf mich an. Zwischen den Schüssen höre ich Marianne, die mit blökender Stimme mein Lied singt. An einem silberglänzenden Speichelfaden klettere ich in den Himmel.