Doch nicht einmal die Heilige Kassilda in all ihrer wunderbaren Demut und endlosen Geduld vermag mehr meine Großmutter von ihren Sünden zu befreien. Der Platz an der Kirchenwand, wo ihr Bild gehangen hatte, war eines Morgens leer. Mit viel Phantasie konnte man sich die Darstellung der großen Mildtäterin noch vorstellen, doch obwohl meine Großmutter viele Stunden ihres Lebens betend in der heiligen Halle verbracht hatte, verblasste ihre Erinnerung schnell.
Klagend und zeternd betrat Großmutter die Küche, in der ich und mein Großvater am Frühstückstisch saßen. Der fidele Alte hatte sich eine Flasche Bier geöffnet, und mir die Vor- und Nachteile einer aufgeklärten Kolonialherrschaft für die, wie er es ausdrückte, „armen Länder da unten“, erörtert.
„Ich glaube es nicht“, kreischte meine Großmutter, „ihr sitzt hier rum, als wäre nichts geschehen. Wisst ihr denn nicht, dass heute Nacht etwas Schreckliches passiert ist?“
Großvater zuckte mit den Schultern und auch ich bemühte mich vergeblich um einen klugen Gesichtsausdruck. „Nichts wisst ihr!“, ereiferte sich meine Großmutter geifernd. „Das Bild! Das Bild der Heiligen Kassilda ist verschwunden.“
„Hast du den Küster gefragt?“ brummte der Großvater und zwinkerte mir zu. „Vielleicht hat er es abgehängt.“
„Der Küster, dieser elende Lump, war überhaupt nicht in der Kirche.“ Die Stimme meiner Großmutter überschlug sich und zu meinem großen Erstaunen nahm sie ein Likörglas aus dem Küchenschrank und bat ihren Mann um einen Schluck Bier.
Widerwillig schüttelte ihr der Großvater die letzten goldenen Tropfen ins Glas und wies mich an, aus dem Keller eine neue Flasche zu holen. Doch statt Bier fand ich in dem schummrigen Gewölbe nur meine Schwester Betty. Sie saß umhüllt von einer fleckigen Decke in der Ecke, und hielt einen Apfel in die Höhe, als sie mich erkannte.
Der münzgroße Leberfleck auf ihrer Wange, aus dem die britischen Besatzungssoldaten damals täglich süße Sahne für sich und ihre Angehörigen zapften, glänzte unruhig im Kerzenlicht. „Ist am Apfel auch die Schale Motiv zum Trieb?“, fragte sie. „Oder ist nur das süße Fleisch Quelle der Lüsternheit?“
Ich hob die Brauen – woher hätte ich solche Dinge auch wissen sollen? Ich nahm die Frucht und streichelte meiner Schwester zum Abschied über die zerzausten Locken.
Oben stritten meine Großeltern über Dinge, die ich nicht verstand. Ich rief beim Hinauslaufen über die Schulter, dass kein Bier mehr im Keller sei. Unter einer Kastanie, die mir geeignet schien, ließ ich mich nieder. Ein Amselweibchen setzte sich auf meine Schuhspitze. Ich hörte nur mit halbem Ohr hin, als es sagte: „Möchtest du ein Menschlein sein, mein kleiner Feind, dann lerne fein: Wolken sind Wolken und ziehen bald vorüber.“