Klassentreffen

Zu den vielen Dingen, die man im Leben tut, obwohl man bereits vorher weiß, dass sie einem keine Freude bereiten werden, gehört der Besuch eines Klassentreffens.
Beim Betreten des Lokals schlägt Hertha Pelzfuß der Geruch von alten Tapeten entgegen und ein Frauenlachen aus dem Hinterzimmer. Das muss die Schneller sein. Das Lachen fährt Hertha wie eine heiße Nadel in die Ohren, breitet sich in Wellen in ihrem Körper aus, und sie weiß, es wird nicht aufhören, ehe der Höchtlmeier mitlacht.
Hertha Pelzfuß hängt ihren Mantel an die Garderobe und setzt sich an einen der wenigen freien Plätze am Tisch. Die ersten Minuten vergehen mit gelogenen Komplimenten und belangloser Entwicklungen. Kinder, Ehen, Krankheiten und Beförderungen werden herumgereicht. Mit einer Mischung aus Neugier und Abscheu betrachtet sie die Umsitzenden, als würde sie bei einem Verkehrsunfall abgetrennte Körperteile heimlich anstarren.
Unsympathische Gefühle steigen in ihr auf. Voller Schadenfreude nimmt sie den durch zahlreiche Geburten aus der Form geratenen Körper der einstigen Klassenschönheit zur Kenntnis. Die schweren Tränensäcke im Gesicht eines Mannes, dessentwegen sie einst nachts in ihr Kissen geweint hat, erfüllen sie mit Genugtuung. Irgendwann fällt ihr unbarmherziger Blick auf sie selbst. Für jedes Zeichen des Verfalls, für jede Ungnade des Schicksals fällt ihr eine Verfehlung aus ihrer Schulzeit ein.
Hertha Pelzfuß stammelt eine Entschuldigung, spuckt einen Mund voll Selbstekel in ihr Glas und hastet aus dem Lokal. An der Tür stößt sie mit ihrem ehemaligen Banknachbarn zusammen. Sie stehlen sich in die Nacht davon und kichern bis zum Morgengrauen auf ihrer Lieblingsschaukel.