Kulturfolger

In der Wohnung über mir ist ein Rudel Wölfe eingezogen. Ein Elternpaar, drei Welpen und zwei halbwüchsige Geschwister. Zunächst war ich erfreut, denn die Nachbarin, die zuvor dort wohnte, war ein missgünstiges Weib, das eimerweise Wasser vom Balkon schüttete, wenn irgendwo zu laut gelacht wurde. Die Wölfe lebten ursprünglich im Wald, doch da sie dort ständiger Bedrohung durch den Ministerpräsidenten ausgesetzt waren, haben sie bei meiner Vermieterin um Asyl angesucht.
Ich muss sagen, angenehmere Nachbarn hatte ich mein Lebtag nicht. Wenn sie nachts nicht ab und zu heulen würden, merkte ich gar nicht, dass sie da sind. Die Wolfsmutter grüßt höflich, wenn ich sie in der Waschküche treffe und lächelt mit blitzenden Zähnen über meine Komplimente für die prächtige Haube, die sie bei Regenwetter trägt. Die Welpen machen vor meiner Terrasse possierliche Sprünge und schlagen Purzelbäume.
Doch wie alles im Leben hat auch das Leben mit Wölfen seine Schattenseiten. Seit einer Woche liegt im Hochbeet unseres Gartens der unselige Ministerpräsident auf der Lauer, im Dunkeln sogar mit Nachtsichtgerät. Gestern hat er der Hausmeisterin eine Ladung Schrot in den Allerwertesten geschossen, als sie einen Krokus pflücken wollte. Mittags hält er ein Schläfchen und schnarcht, dass sich die Balken des Hochbeets biegen. Heute habe ich ihn mit einem Lammfell zugedeckt, in der Hoffnung, die Wölfe mögen ihn reißen. Wir werden sehen.