In alten Zeiten war es üblich, dass die Wölfe nachts an den Waldrändern herumlungerten und Spaziergängern auflauerten.
Heutzutage ist das aus der Mode gekommen. Wölfe gibt es längst nur mehr im Zoo, und Spaziergänger trauen sich nach Sonnenuntergang gar nicht mehr auf die Straße, obwohl es bei Weitem nicht mehr so gefährlich ist wie früher. Nicht einmal mehr richtige Banditen gibt es noch nach Büroschluss.
Mesut Özil war das egal. Immerhin war es eine warme Sommernacht und noch Wochen hin, bis zum nächsten Auswärtsspiel. Außerdem war er kein Angsthase.
Fernab vom nächtlichen Trubel der Großstadt schlenderte er pfeifend am Waldrand entlang und dachte nach. Heute war er zum wiederholten Male Torschützenkönig geworden, und wie so oft deprimierte ihn der Titel, denn man bekam keinen einzigen Untertan dazu.
Die Stimme seines kleinen Sohnes klang ihm in den Ohren, der ihm aus seinem Laufställchen zugerufen hatte: „Vater, lass es sein mit dem Fußball, das bringt nichts ein. Lerne ein Handwerk! Das ist was Ordentliches.“
Für gewöhnlich kümmerte ihn das Geschwätz des Jungen nicht, aber heute, mit dem unnützen Königstitel und alles. Mesut hatte sich beim Hinausgehen gefragt, ob der Kleine nicht womöglich recht haben könnte.
Er blickte seufzend zum vollen Mond hinauf, welcher ob solch dummer Gedanken ungläubig den Hof schüttelte. Mesut Özil war kein Astronom und verstand die Geste nicht.
Er hielt inne, denn etwas raschelte im Unterholz zu seiner Linken. Er meinte einen Schatten wahrzunehmen, war sich jedoch nicht ganz sicher. Nichts geschah, also wanderte er weiter.
Kurz darauf sprach ihn eine piepsige Stimme aus dem Gebüsch an.
„Herr Özil. Herr Özil, bleiben Sie doch stehen.“
Mesut Özil blieb wie angewurzelt stehen. Die Äste knackten und ein großer, grauer Wolf trat aus dem Wald. Er blinzelte wegen des hellen Mondlichts und ließ sich auf seinen mächtigen Hinterbeinen nieder.
„Nehmen Sie doch Platz, Herr Özil, dann ist es gleich viel gemütlicher“, fuhr der Wolf fort und tappte einladend mit der rechten Pfote auf ein Stück Moos neben sich.
„Wölfe sind doch längst ausgestorben“, wunderte sich Mezut Özil, bevor er sich misstrauisch in gebührendem Abstand neben das Tier setzte.
Der Wolf kratzte sich mit der Hinterpfote am Ohr und zeigte seine gelben Zähne. „Quatsch“, knurrte er ungehalten, „so einen Quatsch habe ich lange nicht gehört. Besonders gut informiert scheinen Sie ja nicht zu sein, mein lieber Herr Özil.“
Eine Weile saßen die beiden schweigend nebeneinander und blickten zum Mond hinauf. Ein paar Mal machte der Wolf Anstalten zu heulen, doch er schloss immer gleich wieder das Maul, als schickte sich das nicht, in Anwesenheit fremder Arten.
„Ich frage mich“, sagte Mesut Özil, als der Mond schon ein gutes Stück vorangekommen war, „was Sie von mir wollen.“
Der Wolf stellte die Ohren auf und schlug einmal schnalzend mit dem Schwanz auf den Boden.
„Ich? Was ich von Ihnen will? Sie machen wohl Scherze. Schließlich sind Sie doch zu mir gekommen.“ Der Wolf setzte ein beleidigtes Gesicht auf und leckte sich teilnahmslos die Tatze.
Mesut überlegte eine Weile. Der Wolf hatte recht. Er war hierher gekommen, in das Revier des Wolfs. Ebenso gut hätte er in die Eckkneipe gehen können, wo ihm der fette Wirt auf die Schulter geklopft hätte, zum Zeichen der Anerkennung seines lächerlichen Königstitels. Er hatte es nicht gern, wenn andere recht behielten. Namentlich Tiere. Das war Mesut Özil nicht gewohnt.
Er legte die Stirn in Falten und überlegte eine Weile. „Ich weiß nicht warum ich zu Ihnen gekommen bin. Ehrlich gesagt, ich wusste ja nicht einmal, dass es Sie überhaupt gibt.“
Genervt verdrehte der Wolf die Augen und äffte Mesuts letzten Satz mit seiner Piepsestimme nach: „… Ich wusste ja nicht einmal, dass es Sie überhaupt gibt. Jetzt denken Sie scharf nach, Herr Özil. Ich habe nicht ewig Zeit.“
Mesut Özil rang die Hände. Er wollte den Wolf nicht aufbringen. Wütende Wölfe, dachte er bei sich, machen sicher Probleme, die ich auf die Schnelle nicht lösen können werde.
„Ich glaube… äh… ich wollte … nun ja … äh … Sie um einen Rat fragen“, stotterte er endlich.
Empört setzte sich der Wolf auf. „Einen Rat?“ Er schüttelte sich und ein Regen von Flöhen ging auf Mesut Özil nieder. „Ich bin Wolf und kein Psychologe. Hören Sie gefälligst mit den Faxen auf.“
Mesut wurde allmählich verzweifelt. Was konnte man von einem Wolf wollen? Er hatte keine Ahnung. Hilflos scharrte er mit den Füßen im Laub.
„Wir gehen ein Stück zu Fuß“, bestimmte der Wolf und erhob sich. „Irgendwann wird es Ihnen schon einfallen.“
Gehorsam trottete Mesut Özil neben dem Wolf her, in den Wald hinein.
Seine Frau und der Trainer seines Fußballvereins suchten noch eine ganze Zeit lang nach ihm. Schließlich wurde sogar ein Detektiv von der FIFA mit der Suche beauftragt. Aber Mesut Özil ward nie wieder gesehen.
Sein Sohn jedoch wurde ein berühmter Schuster.