Stoßzeit

Bekanntermaßen ist der Planet überfüllt, wie ein Bahnwaggon zur Stoßzeit. Stoßzeit. Kein schönes Wort. Aber so sagt man eben. Früher hätte es geheißen, man solle etwas zusammenrücken, wenn es eng wird, aber heute darf man das nicht mehr. Niemand weiß mehr genau, wie man sich richtig verhält und was erlaubt ist. Außer meinem Nachbarn, dem guten Bormann. Er ist der moralische Kompass der Hausgemeinschaft, und wir alle sonnen uns im Leuchten seines Beispiels. Zudem ist er der Vetter des bösen Bormanns, doch von dem will ich lieber schweigen, sonst vergesse ich meine gute Kinderstube.

Neulich begegnete ich ihm in der Schlange vor dem Fleischer, und wir gerieten ins Plaudern. Nachdem wir ein Weilchen Höflichkeiten ausgetauscht hatten, senkte der gute Bormann die Stimme.

„Wissen Sie, meine Dame, manchmal habe ich es satt, der gute Bormann zu sein. Manchmal bekomme ich Lust, richtig die Sau raus zu lassen.“

Obschon ich neugierig auf des guten Bormanns Abgründe gewesen wäre, fragte ich nicht nach. Zum einen erschien es mir unschicklich, zum anderen fürchtete ich mich, den Hausgenossen durch einen Makel verunstaltet zu sehen. Der Takt verbot es dem guten Bormann, mir ungefragt von seinen dunklen Wünschen zu berichten, und so wünschte er mir lediglich einen guten Tag und spazierte mit seinem Bierschinken davon.

Eine Woche ist seit dieser Begegnung vergangen, und mittlerweile verfluche ich mich, ihn nicht gefragt zu haben. Durchwachte Nächte liegen hinter mir, in denen ich mir seine Schandtaten und Scheußlichkeiten ausgemalt habe. Voller Argwohn beobachte ich, wie er aus seiner geblümten Gießkanne Wasser in die Vogeltränken schüttet, und hinter jeder seiner Freundlichkeiten vermute ich einen finsteren Plan. Sogar für den Oberschenkelbruch der alten Schachtel aus der zweiten Etage mache ich ihn verantwortlich. Ich bin sicher, er hat sie gestoßen.