Und bist du nicht willig

Als Kind dachte ich, mein Leben würde in nicht allzu ferner Zukunft durch einen Atompilz beendet. Eine sich mit polternden Schritten nähernde, unaufhaltsame Katastrophe, die mich und alle anderen vollkommen überraschen würde. In einem Augenblick wackle ich morgens mit dem Schulranzen auf dem Rücken die Ludwig-Braille-Straße entlang und im nächsten zerreißt ein Donnerschlag meine Ohren, der grellste Blitz der Welt blendet mich und ein heißer Wind schmort mir den Ranzen ins Fleisch und dann das Fleisch in die Knochen. Oder ich habe Pech und irre noch ein paar Tage blind durch geschmolzene Ruinen, bevor ich an der Strahlenkrankheit sterbe.

Selbst ein Schulkind trug das Wissen um die erbarmungslose Vernichtung mit sich herum, ganz selbstverständlich, wie einen Schulranzen. Dass einen dieses Schicksal trotz vorheriger Kenntnis völlig unvorbereitet ereilen würde und man keinerlei Vorkehrungen traf oder versuchte es abzuwenden, störte mich mehr als die Aussicht auf einen schmerzhaften Tod.

Ich fragte meinen Vater danach und antwortete, das sei entweder Ambivalenz oder Ambiguität oder kognitive Dissonanz. Ich solle ihm Bescheid geben, sobald ich Genaueres herausgefunden hätte. Ich mochte seine alttestamentarischen Antworten lieber, doch die bekam man nur, wenn er genug, jedoch nicht zu viel Cognac getrunken hatte. Aber nur ein Tröpfchen mehr und er bekam den in der Familie sogenannten „Moralischen“, was anstrengender war als seine nüchternen Antworten.

Jedenfalls erschienen mir im Lichte dieser düsteren Zukunft Berufswünsche, Altersvorsorge, Pläne und jedweder Ehrgeiz als Zeitverschwendung und eitle Wichtigtuerei. Eines Tages erwache ich als mittelalte Person und fühle mich um den Weltuntergang betrogen. Um den bitteren Geschmack der Erkenntnis abzuwaschen, trinke ich einen Cognac.
„Und bist du nicht willig, dann lässt du es halt“, sagt die schnapsschwere Stimme des Vaters in meinem Kopf.